https://rotary.de/endpolionow/polio-rueckblick.html
Schülerinnen zeigen nach ihrer Polio-Schutzimpfung ihre farbmarkierten Finger
Jean-Marc Giboux

Schülerinnen zeigen nach ihrer Polio-Schutzimpfung im Rahmen nationaler Impftage in Addis Abeba ihre farbmarkierten Finger vor

ROTARYS KAMPF GEGEN DIE KINDERLÄHMUNG – EIN RÜCKBLICK

Der folgende Text ist eine übersetzte Zusammenfassung der Broschüre von Herbert A. Pigman "Conquering Polio. A brief history of PolioPlus, Rotary's role in a global program to eradicate the world's greatest crippling disease" (Rotary International, 2005 - Übersetzung und Redaktion: Matthias Schütt).

Pigman, RC Boswell/Indiana, USA, war von 1979 bis 1986 und von 1993 bis 1995 RI-Generalsekretär und übernahm mehrfach Führungsaufgaben im Program PolioPlus. Die Broschüre entstand zum Rotary-Jubiläum 2005.

  

Das Versprechen

Es war der Neujahrstag 1986, als Rotary International sich erstmals mit einem internationalen Projekt an die Weltöffentlichkeit wandte und das Programm PolioPlus zur Ausrottung der Kinderlähmung (Poliomyelitis kurz Polio) bekannt gab. Das Forum dafür bot eine der großen öffentlichen Aufmärsche in den USA, die Rosen-Parade in Pasadena/Kalifornien, USA, deren Präsentation von über 100 Themenwagen in jenem Jahr von 125 Millionen Fernsehzuschauern in aller Welt verfolgt wurde.


Das Paraden-Motto „A Celebration of Laughter" wandelten die rotarischen Organisatoren für ihr Anliegen um: Turning tears into Laughter (Aus Tränen wird ein Lachen). Ein Banner mit dem Hinweis auf das 100. Gründungsjubiläum Rotarys signalisierte den anvisierten Schlusstermin: Bis 2005 will Rotary die Kinderlähmung endgültig besiegen. Als Botschafter auf dem Festwagen winkte einer junger Mann aus Malawi ins Publikum, der als Kind an Polio erkrankt war, und nun dank intensiver medizinischer Behandlung durch rotarische Ärzte fast ohne Hilfsmittel aufrecht gehen konnte: Einer von geschätzten zehn Millionen Menschen, die noch immer unter den Folgen einer Polio-Infektion leiden. „Was Wilborn Chuvala durchlebt hat, ist sowohl Triumph als auch Tragödie", schreibt Herbert A. Pigman: „Triumph wegen seines Willens, die Krankheit zu besiegen, Tragödie weil ihm und Millionen anderer Polio-Opfer in den letzten 50 Jahren Tod oder Verkrüppelung hätten erspart werden können, wenn die globalen Gesundheitssysteme in der Lage gewesen wären, ein paar Tropfen Impfstoff auszugeben, eines Impfstoffs, der nur ein paar Cents kostet."

  

Das Ziel

Als Rotary sich mit dieser Ankündigung gegenüber der Weltöffentlichkeit selbst in die Pflicht nahm, gab es kaum Zweifel an der Machbarkeit, Polio bis 2005 aus der Welt zu schaffen, denn zwei Voraussetzungen waren gegeben: Es standen Impfstoffe von hoher Qualität und niedrigen Kosten zur Verfügung und Rotary hatte mit einer neuen Programmstruktur den Weg für große internationale Gemeinschaftsaktionen bereitet. Dies und die Dynamik eines weltweiten Netzwerks von damals einer Million Rotarierinnen und Rotarier gaben Anlass zum Optimismus.

Auch wenn ihnen bewusst war, welche außerordentlichen Anstrengungen vor ihnen lagen, z.B. enorme Geldmittel aufzubringen, Partner im öffentlichen Bereich zu finden, medizinisches Know-how zu akquirieren und vor allem die Mitglieder für hands-on zu gewinnen, mit den in den folgenden Jahren dann tatsächlich eintretenden Hindernissen konnten die Organisatoren nicht rechnen. Das Geld war fast die geringste Sorge, aber wie sollte man Millionen von Eltern von Schutzimpfungen überzeugen, die noch niemals Kontakt mit einer Gesundheitsbehörde gehabt hatten? Wie sollte der Nachweis der Unterbrechung der Übertragungskette ermöglicht werden, ohne vorher ein globales Laborsystem zur Kontrolle aufzubauen? Zu diesen Herausforderungen hinzu kamen unvorhersehbare Rückschläge durch Kriege, Wirtschaftskrisen, die schlechte medizinische Infrastruktur in vielen Ländern der dritten Welt und schließlich das Auftreten neuer Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS, was im Kampf um öffentliche Fördermittel immer größere Anstrengungen notwendig machte.

  

Interessante Veröffentlichungen

Der lange Kampf gegen die Kinderlähmung 

Bild der Wissenschaft 7-2014

Bill Gates zur Ausrottung von Polio:
"Es ist eine historische Chance"

Spiegel.de 27.04.2013

Killing Polio

Time 14.01.2013

  

Ein Grundsatzstreit

Das größte Hemmnis jedoch lag bei Rotary selbst, versteckt in einem Convention-Beschluss von 1923, der die volle Autonomie der Clubs in der Projektarbeit bestätigte und damit festschrieb, „dass Rotary International niemals einem Club irgendeine Aktivität vorschreiben oder verbieten dürfe".

Der Beschluss 23-34 über das grundlegende Selbstverständnis der Organisation führte auch 50 Jahre nach seiner Formulierung noch immer zu harten Auseinandersetzungen über die Rolle Rotarys in der modernen Gesellschaft: Während seine Verfechter in der Stärkung der individuellen Aktivitäten des einzelnen Clubs und seiner Mitglieder den wahren Geistes Rotarys behüten wollten, so wie es nach ihrer Ansicht Paul Harris gewollt habe, legte der Beschluss für die Gegner dem enormen Potenzial einer weltweiten Gemeinschaft Fesseln an, die sie daran hinderten, grundlegende humanitäre Probleme aufzugreifen.

In dieser Kontroverse setzten sich die Gegner allmählich durch, vor allem nachdem R.I. Präsident Carl P. Miller (1963/64) die internationale Zusammenarbeit von Clubs zum Programm erhob und so den Weltgemeindienst auf den Weg brachte. Damit „war ein schlafender Riese geweckt worden" (Pigman), ohne den rotarische Arbeit heute nicht mehr denkbar ist.

  

Health Hunger Humanity

Der schnell wachsende Erfolg des Weltgemeindienstes und der dramatische Auftritt eines Impfexperten vor dem R.I. Board of Directors im Februar 1978 beflügelten R.I. Präsident elect Clem Renouf, seine Vorstellungen eines neuartigen umfassenden Hilfskonzepts zu formulieren, mit dem grundlegende Notsituationen der Menschheit im großen Maßstab bekämpft werden könnten und das damit weit über die Möglichkeiten einzelner Clubs oder Distrikte hinausreichte. Dies wurde zur Geburtstunde des 3-H-Programms mit den Stichworten: Health – Hunger – Humanity.

Renoufs Überzeugung in einem Satz: „Wir müssen weltweit als eine Organisation wahrgenommen werden, die sich um Menschen und ihre Bedürfnisse kümmert und die das in konkreten, sichtbaren und bedeutenden Projekten zum Ausdruck bringt, zuhause wie im Ausland. Das ist nicht nur entscheidend für unser kontinuierliches Wachstum, sondern für unser Überleben in vielen Ländern der Welt."

Die benötigten Mittel für diese Mission sollten über Sonderspenden zum 75. Geburtstags Rotarys 1980 eingeworben werden. 7,2 Millionen US-Dollar kamen dafür insgesamt zusammen, nachdem das 3-H-Programm erstmals auf der Convention 1978 in Tokio der rotarischen Öffentlichkeit vorgestellt worden war. Und immer mehr Freiwillige meldeten sich, die dabei mithelfen wollten, vor Ort und ganz konkret dieses Geld für ein sinnvolles humanitäres Projekt zu nutzen.

  

Startschuss auf den Philippinen

Als geeignetes Startprojekt schälte sich nach langen Beratungen die Durchimpfung gegen die Kinderlähmung aller 6,3 Millionen Kinder auf den Philippinen heraus, einem Land mit überdurchschnittlich hoher Infektionsrate. Für Beschaffung und Verabreichung der Impftropfen wurde ein Budget von 760.000 US-Dollar aufgestellt. Die Regierung des Inselstaates griff den Vorstoß begeistert auf und auch zwei Organisationen waren damals schon zur Stelle, die heute auf eine lange und bewährte Partnerschaft mit Rotary zurückblicken: die Weltgesundheitsorganisation WHO und UNICEF.

Die Vereinbarung mit der Regierung der Philippinen im März 1979 kommentierte Renouf später folgendermaßen: „Es war ein historischer Augenblick für uns vor der Regierung der Philippinen, der WHO und UNICEF, denn wir haben uns damals nicht nur selbst in die Pflicht genommen, beträchtliche Gelder für ein Projekt anzukündigen, wie wir es noch nie vorher unternommen hatten. Indem wir uns mit Organisationen der Vereinten Nationen zusammentaten, warfen wir Rotarys Ruf weltweit in die Wagschale."

Im Mai 1979 gab das R.I. Board of Directors grünes Licht für das Projekt auf den Philippinen; am 29. September 1979 erhielt das erste Kind durch R.I. Präsident James Bomar die Schluckimpfung. Bei den folgenden Impfkampagnen wurden neben Polio-Impfungen oft auch andere Schutzimpfungen verabreicht. Bereits im Juli 1980, nur neun Monate nach Beginn, waren 90 Prozent der Kinder unter fünf Jahren geimpft. Bis 1982 fiel daraufhin die Anzahl der Polio-Neuinfektionen um 68 Prozent.

Nach diesem Modell wurden in den Folgejahren ähnliche Projekte in Kambodscha, Haiti, Marokko, Paraguay und Sierra Leone auf den Weg gebracht.

  

Neue Horizonte

1981/82 richtete R.I. Präsident Stanley E. McCaffrey ein „New Horizon"-Komitee ein, das Vorschläge sammeln und sichten sollte, wie und in welchen Bereichen Rotary seine Dienstbereitschaft für die Menschheit umsetzen sollte. Fast 3.000 Vorschläge gingen einschließlich des Appells ein, dabei mitzuwirken, bis 2005 alle Kinder der Welt vor Polio zu schützen. Das Komitee spitzte diesen Appell zu in der Zielstellung, „alle Kinder der Welt bis zu Rotarys 100. Geburtstag gegen Polio zu impfen".

Die Bestätigung durch das Board of Directors bedeutete „einen Quantensprung in der Selbstverpflichtung", wie Pigman festhält. Und „New Horizon"-Mitglied Cliff Dochterman, 1992/93 R.I. Präsident, meinte in der Rückschau: „Wenn wir damals die ganze Komplexität der Angelegenheit erahnt hätten, wäre diese Entscheidung nie gefallen."

Dazu gehörte beispielsweise die strategische Planung. R.I. Präsident 1984/85 Carlos Canseco (Mexiko), von Haus aus Allergologe und Fachmann für öffentliche Gesundheitsfragen, wies bereits 1982 darauf hin, dass ein solches Ziel mit Einzelprojekten nach dem 3-H-Muster nicht zu erreichen sei. Erforderlich seien vielmehr jährliche Massenimpfungen in allen (!) polio-endemischen Ländern, mit denen möglichst alle Kinder unter fünf erfasst werden müssten. Wenn dieses Niveau einige Jahre aufrechterhalten werden könne und eine Quote von mindestens 80 Prozent der Zielgruppe gesichert sei, dann könnte Polio verschwinden. Im Licht der fragilen Infrastrukturen in den Gesundheitssystemen vieler dieser Länder konnten aber durch routinemäßige Impfkampagnen nicht ausreichend viele Kinder erreicht werden.

  

Vertikal vs. horizontal

Und es gab noch ganz andere Schwierigkeiten: Die WHO wandte sich gegen Impfprogramme, die eine einzelne Krankheit ins Visier nahmen (vertikale Strategie). Seit 1978 galt das Programm EPI (Expanded Programme on Immunization), mit dem 90 Prozent aller Neugeborenen vor Polio, Masern, Tuberkulose, Diphterie, Keuchhusten sowie Tetanus geschützt werden sollten. Trotz der erfolgreichen Kampagne gegen die Pocken war man bei der WHO der Auffassung, Geld und andere Ressourcen würden mehr Nutzen bringen, wenn man auf breiter Front horizontal gleich eine Reihe von Krankheiten anging, sodass jedes Land in der Lage sei, sich auf die Krankheiten zu konzentrieren, die für die jeweils meisten Todesfälle verantwortlich seien.

Durch Rotarys Ansatz bekam die „Vertikal-Horizontal“-Debatte neuen Auftrieb, die zahlreiche Arbeitsgruppen und Konferenzen beschäftigte. Man suchte nach einem Kompromiss beider Strategien und fand in Abstimmung mit UNICEF eine Rolle für Rotary, die beiden Aspekten Rechnung trug. Rotary solle sich um folgende drei Aufgaben kümmern:

  • die Bereitstellung großer Menge Impfstoff über einen Zeitraum von fünf Jahren,
  • die Bereitschaft, durch intensive Lobby-Arbeit Politiker für die Unterstützung des Programms zu gewinnen sowie
  • die Mobilisierung von Freiwilligen auf lokaler Ebene für Aufklärungskampagnen, mit denen Eltern über den Nutzen von Impfungen informiert werden sollten.

Diese drei Punkte, gegossen in ein Papier, das vom Board und den Rotary Foundation Trustees genehmigt wurde, sind der Kern des als PolioPlus bezeichneten Programms, wobei dieser Begriff die Gegensätze versöhnen sollte: Polio signalisiert den (vertikalen) Kampf gegen eine Krankheit: die Kinderlähmung, Plus steht für die Bereitschaft, an der horizontalen Strategie mitzuwirken, weil Geld, Know-how und Freiwilligen-Mobilisierung auch der Bekämpfung der anderen fünf Krankheiten des EPI-Programms zugute kommen würden.

  

Startschuss in Kansas City

Auf der Rotary Convention von Kansas City 1985 wurden die Details von PolioPlus erstmals der rotarischen Öffentlichkeit erläutert. Eingestimmt wurden sie zunächst von einem Rotarier, der bereits Jahrzehnte zuvor den Grundstein für dieses Vorhaben gelegt hatte: Albert Sabin, R.C. Cincinnati, Virologe und Arzt, hatte in den 50er Jahren den oralen Impfstoff entwickelt und stellte nun Tausenden Zuhörern vor Augen, was passieren würde, wenn nicht endlich der Kampf gegen die Kinderlähmung aufgenommen würde: „In den nächsten 20 Jahren werden voraussichtlich acht Millionen Kinder verkrüppelt werden, schätzungsweise 800.000 werden sterben."
Im Oktober 1985 erhielten die Rotary-Spitzen Gelegenheit, PolioPlus auf einer Konferenz von Staatschefs vorzustellen, die in New York City aus Anlass des 40. Gründungstags der Vereinten Nationen zusammengekommen waren. Pigman erläuterte das Konzept und kündigte an, dass die Service-Organisation für den Impfstoff 120 Millionen US-Dollar bereitstellen werde.

Das hatte es noch nie gegeben: Eine private Organisation, die eine unglaubliche Spende sowie ein Netz von einer Million Führungskräfte für eine öffentliche Gesundheitsmaßnahme zur Verfügung stellt. „Das war ein stolzer Moment für Rotary", so Pigman im Rückblick, „und ein ziemlich kühner Auftritt: Schließlich hatten wir noch keinen Groschen in der Kasse..."

120 Millionen US-Dollar war der Betrag, den Rotary nach Schätzung der Experten für Impfstoff würde aufbringen müssen. Viele glaubten, das müsste ausreichen, um die Polio-Übertragungskette dauerhaft zu unterbrechen. In den folgenden fünf Jahren sollten die nationalen Gesundheitsbehörden in die Lage versetzt sein, Polio endgültig zu besiegen. Die wahre Dimension dieser Aufgabe und ihre tatsächlichen Kosten von mehr als drei Milliarden US-Dollar sollten noch eine Weile im Dunkeln bleiben.

  

Rotarys große Stunde

120 Mio. US-Dollar von fast einer Million Mitglieder einzuwerben – das Ziel schien machbar, auch wenn der Zeitrahmen eng gezogen wurde: innerhalb von drei Jahren. Die besonderen Charakteristika der Polio-Viren, die schnell wieder in jedes befreite Gebiet eindringen konnten, ließen keine Zeitverzögerung zu,

Die Kampagne setzte eine völlig neue Art des Fundraisings voraus, die Rotary erst erlernen musste. Mit Hilfe einer Management-Agentur wurde ein strategischer Ansatz entwickelt, um Idee und Zielsetzung in jeden Rotary Club zu bringen. Das war die Hauptaufgabe im ersten Jahr 1985/86. Die Organisationsstruktur sah an der Spitze ein PolioPlus-Komitee vor, darunter elf internationale Koordinatoren, 84 nationale Koordinatoren und noch einmal 3.300 Regional-Koordinatoren, insgesamt 3.900 Multiplikatoren, die jetzt zunächst geschult werden mussten. Gleichzeitig wurden zehn Musterclubs ausgewählt, um die Resonanz des Programms an der Basis zu testen und die Breitenwirkung zu steuern. Das Ergebnis war ermutigend, Rotarier in aller Welt nahmen die Herausforderung an und entwickelten eine Vielzahl kreativer Ideen, um für PolioPlus an Geld zu kommen.

Am 3. Februar 1988 bereits waren die 120 Millionen Dollar auf dem Konto. Doch das blieb zunächst geheim, um auf der Convention drei Monate später die Gesamtleistung gebührend zu würdigen. Und es wurde tatsächlich Rotarys große Stunde: Denn als am 24. Mai in Philadelphia die einzelnen von nationalen Vertretern ausgerufenen Summen addiert waren, standen unter dem Strich 219, 35 Mio. Dollar – nahezu das Doppelte der erhofften Summe. Fast genauso eindrucksvoll: 85 Prozent der 23.000 Clubs hatten sich beteiligt.

Die grandiose Leistung wurde durch eine zweite gute Nachricht abgerundet: Wenige Tage vor der Convention hatte die WHO beschlossen, die Welt von der Kinderlähmung zu befreien.

  

Testgebiet Amerika

Parallel zur Spendensammlung hatte Rotary auch die zweite Aufgabe in Angriff genommen, Freiwillige für die Impfaktionen zu aktivieren. Nord- und Südamerika wurden als Testgebiet für eine Strategie ausgewählt, die dann weltweit die Kinderlähmung besiegen sollte. Hier konnte und sollte Rotary alle die Aufgaben erproben, die es im Rahmen der Kampagne übernommen hatte, inkl. der Lobbyarbeit bei den Regierungen (Advocacy).

Die Experten der WHO waren überzeugt, dass die beiden Amerikas von Polio befreit werden könnten, gab es doch bereits Vorreiter wie Kuba, das seit 1962 Polio-frei war. Allerdings standen flächendeckenden Erfolgen eine ganze Reihe von Problemen entgegen: In vielen Ländern gab es kein oder kein effizientes Meldesystem für Infektionskrankheiten, und nur wenige Labors standen für Kontrollaufgaben zur Verfügung. Darüber hinaus erschütterten Bürgerkriege manche Länder und schließlich fehlte es an 90 Mio. Dollar.

Andererseits gab es PolioPlus. Es gab eine Zusage von 10 Mio. Dollar und es gab bemerkenswerte Mobilisierungserfolge unter den Rotariern, sodass im Mai 1985 Rotary und Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens eine gewagte Ankündigung vornahmen: Bis 1990 sollte die Kinderlähmung in den Amerikas ausgerottet sein. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch 1.000 Infektionsfälle in elf Ländern.

  

Erfolg in Amerika

In vielen National Immunization Days (NIDs), deren effektive Durchführung hier erstmals erprobt wurde, gelang es, Polio vor allem in Mittel- und Südamerika zurückzudrängen. Allerdings blieb das Infrastruktur-Problem zu überwinden: Wie stellen wir eine effektive Überwachung und wie die Erfolgskontrolle sicher?

Allmählich gelang es den nationalen Gesundheitsbehörden, die vorgegebene Benchmark zu erreichen: Jede Meldung einer akuten Lähmung bei einem Kind unter 15 Jahren musste innerhalb von 48 Stunden von einem Epidemiologen untersucht werden. Am Ende würde es gut 20.000 Gesundheitseinrichtungen in Lateinamerika geben, die jede Woche Meldungen über etwaige schlaffe Lähmungen absetzen würden. Auch hier haben rotarische Ärzte wichtige Basisarbeit geleistet.

1989 gab es noch sechs Länder mit Polio-Infektionen, 1990 wurden dann nur noch 18 Fälle in der ganzen Hemisphäre gemeldet, im Folgejahr nur noch 9! Der letzte bestätigte Polio-Fall wurde am 23. August 1991 in Peru registriert. In den folgenden drei Jahren wurde intensiv nach weiteren Polio-Infektionen gesucht – sogar mit Belohnungen für jeden, der eine von der Kinderlähmung hervorgerufene schlaffe Lähmung meldete. Es gab jedoch keine neuen Fälle mehr. 1994 wurden Nord- und Südamerika von einer internationalen Expertenkommission für Polio-frei erklärt.

  

Strenge Erfolgskriterien

Für die Zertifizierung wurde ein Verfahren entwickelt, das hohe Anforderungen an regelmäßige Kontrolluntersuchungen stellte. Dazu wurde eine unabhängige International Certification Commission on Poliomyelitis Eradication unter dem Vorsitz des Virologen und Nobelpreisträgers Frederick C. Robbins (USA) eingerichtet.

Diese Kommission entwickelte einen Kriterienkatalog, der später auch in anderen Regionen Anwendung finden sollte. Darin wurde u.a. gefordert, dass mindestens 80 Prozent der Meldestellen wöchentlich den Status an AFP-Fällen (Acute Flaccid Paralysis – schlaffe Lähmungen) zu melden hätten. Dabei musste mindestens ein AFP-Fall pro 100.000 Kinder unter 15 Jahren auftauchen (da nicht alle schlaffen Lähmungen von Polio herrühren, könnte das Fehlen jeglicher AFP ein Indikator für Fehler im Überwachungssystem sein). Für mindestens 80 Prozent der gemeldeten AFP-Fälle mussten innerhalb von zwei Wochen zwei Stuhlproben des Patienten sowie Stuhluntersuchungen der nächsten Kontaktpersonen in einem von der WHO zertifizierten Labor untersucht werden.

540 Millionen US-Dollar hatte die erfolgreiche Kampagne in den Amerikas gekostet. 80 Prozent davon stammten aus öffentlichen Haushalten, der Rest von Spendern wie Rotary, das 38,5 Mio. Dollar beisteuerte. Dieses Verhältnis sollte sich bald deutlich verändern, als der Kampf gegen Polio in wirtschaftlich deutlich schwächeren Ländern Asiens und Afrikas aufgenommen wurde.

  

Countdown in Indien

Etwa 70 Prozent der weltweit registrierten Polio-Infektionen traten in Indien auf. Hier würde sich folglich zeigen, ob die in den Amerikas entwickelte Strategie tatsächlich so zukunftsweisend war, wie die Verantwortlichen hofften.

National Immunization Days (NIDs) in Indien stellen die größten Gesundheitsaktionen der Welt dar. Ein NID besteht oft aus drei Tagen, von denen einer den Impfaktionen an zentralen mobilen Ständen dient und zwei weitere den Nachfassaktionen von Haus zu Haus. Bereits drei bis vier Monate vor einem NID beginnt die Detailplanung, denn die logistischen Herausforderungen sind gewaltig: Etwa 650.000 Impfstände müssen landesweit aufgestellt werden – an Flughäfen, Bahnhöfen, Busstationen, Freizeitparks usw. Etwa 225 Millionen Impfdosen müssen bereit stehen, die in Tausenden von Tragetaschen von Hunderten Tonnen Eis kühl gehalten werden. Die Nachfass-Aktionen von Haus zu Hause erfordern 1,3 Millionen Teams mit jeweils zwei bis drei Leuten.
Für die Werbung ist jedes Kommunikationsmittel recht: Trommeln, Ausrufe, TV- und Radiowerbung durch Prominente, Straßentheater, mobiles Kino usw. Eine Riesenflotte aus Lkw, Pkw, Booten, Flugzeugen, Hubschraubern, aber auch Elefanten, Kamelen und Eseln macht sich auf den Weg. Experten für öffentliches Gesundheitswesen aus anderen Ländern waren beeindruckt, was Indien in Bewegung setzt, um 150 Millionen Kinder an einem Tag zu immunisieren – 6.000 Kinder pro Sekunde!

Für den Erfolg in Indien wurden Advocacy sowie eine deutliche Verbesserung der Überwachung zu entscheidenden Erfolgskriterien. 1995 fand der erste NID statt, an dem 82 Millionen Kinder geimpft und viele neue Unterstützer geworben wurden. Es ist Rotariern zu verdanken, dass in Indien das Bewusstsein für die Aufgabe der Polio-Bekämpfung bis heute erhalten blieb.

  

Erfolgsgarant NID

Obwohl sie sich nach regionalen Bedingungen unterscheiden, haben alle NIDs einige Gemeinsamkeiten: die Zielgruppe – Kinder unter fünf Jahren, unabhängig von vorherigen Impfungen – und ein sensibles Produkt, das dauerhaft unterhalb einer Temperatur von 4,5 ° C gehalten und deshalb schnell transportiert und ausgegeben werden muss.

In Indien bestand die NID-Strategie ihren Härtetest. Trotz der besonderen Herausforderungen in diesem Land – seiner Größe und Bevölkerungszahl, verschiedener Sprachen, Tausender Dörfer – konnte Rotary hier eine Schlüsselrolle in der sozialen Mobilisierung spielen: 100.000 Rotarier in 1.900 Gemeinden standen dafür ein. In anderen Ländern Afrikas und Asiens, in denen Rotary nicht so stark vertreten war, war die Situation anders: Hier fehlten wichtige Kräfte aus dem Privatsektor, die Führungsverantwortung übernehmen konnten. Dadurch war die Belastung der wenigen Clubs und Mitglieder unverhältnismäßig stärker, wenn sie die Ziele von PolioPlus erreichen wollten.

  

Kampagne der Superlative

In den Folgejahren gelang es der 1988 gebildeten Global Polio Eradication Initiative (WHO, Rotary, UNICEF, CDC) in vielen Ländern Polio entscheidend zurückzudrängen. Voraussetzung dafür wurde eine Zuwendung von 5,3 Mio. US-Dollar, die die Rotary Foundation der WHO überwies, um mit diesem Geld in Genf einen Kampagnenstab und fünf Außenbüros in verschiedenen Erdteilen einzurichten. Dieser relativ kleine Betrag wurde zur wichtigsten Zuwendung der ganzen PolioPlus-Kampagne, denn erst mit der neuen Entscheidungsstruktur konnte die WHO den Kampf gegen die Kinderlähmung global aufnehmen. Die WHO machte daraus die größte Aktion in der Geschichte der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, in die Tausende medizinische Fachkräfte und 20 Millionen Freiwillige eingebunden wurden.

Nach den ersten Erfolgen erreichte der Spendenzufluss eine neue Qualität: Rotary, nationale Entwicklungsagenturen und private Unternehmen stellten fast drei Milliarden Dollar zur Aufstockung der knappen Budgets in polio-endemischen Staaten zur Verfügung – für Impfstoff, den Aufbau eines Überwachungssystems und eines Netzwerks von 146 Fachlaboren, Trainingsseminare und die Unterstützung von NIDs. Darauf nahm die Zahl der polio-endemischen Staaten stetig ab.

Im Oktober 2000 wurde in Kioto/Japan feierlich verkündet, dass die WHO-Region Westlicher Pazifik (37 Länder, darunter die bevölkerungsreichste Nation China) Polio-frei zertifiziert werden konnte. Damit stand fest, dass die in den Amerikas erprobte Strategie auch in anderen Teilen der Welt funktionierte, und eben auch in solchen mit stark unterschiedlichen Kulturen, wirtschaftlichen Verhältnissen und Strukturen in der Gesundheitsvorsorge.

  

Wettlauf gegen die Zeit

Auch in Europa war das Ende von Polio nur eine Frage der Zeit und des Erfolgs der Operation MECACAR, hinter der sich eine über fünf Jahre – 1995-2000 – koordinierte Serie von NIDs in der Region Östliches Mittelmeer/Kaukasus/Zentralasiatische Republiken verbarg. Jedes Jahr wurden 65 Millionen Kinder immunisiert. Damit wurde es möglich, Europa im Juni 2002 als Polio-frei zu zertifizieren.

Diese regionalen Erfolge konnten jedoch nicht verdecken, dass das von der WHO ausgegebene Ziel nicht zu erreichen war: eine Polio-freie Welt bis 2000. Am Ende des Jahrhunderts gab es immer noch 20 Polio-endemische Länder. Aber wie lange musste man das Ziel aufschieben? Jedes weitere Jahr Verzögerung würde geschätzte 100 bis 150 Millionen Dollar an zusätzlichen Kosten verursachen. Denn dann würden immer neue NIDs zum Schutz der Neugeborenen in den Polio-freien Ländern notwendig werden, die nur begrenzte Mittel für Routineimpfungen aufbringen können. Und ganz grundsätzlich nährten die spezifischen Probleme in einigen afrikanischen Ländern – ethnische Rivalitäten, Bürgerkriege, Wirtschaftskrisen – Zweifel daran, das Ziel jemals zu erreichen. „Nur ein dummer Hund bellt Elefanten an", die afrikanische Mahnung wurde von Skeptikern auch auf dieses Projekt übertragen.

Aus diesem Grund wurde der „Global Polio Partner Summit" in New York im September 2000 zu einer Demonstration der Entschlossenheit der anwesenden 350 Vertreter von Geberländern, privater Organisationen und Polio-endemischer Länder. Der damalige UN-Generalsekretär setzte eine Countdown-Uhr mit dem Ziel 2005 in der Lobby des UN-Hauptquartiers in Gang und erklärte: „Unser Wettlauf gegen Polio ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Wenn wir jetzt nicht die Chance ergreifen, wird die Krankheit die Oberhand zurückgewinnen und unsere Gelegenheit wäre vertan."

In den folgenden drei Jahren wurden die Anstrengungen in den verbleibenden Polio-endemischen Ländern noch einmal erhöht und bemerkenswerte Erfolge erzielt: In der vom Bürgerkrieg verwüsteten Demokratischen Republik Kongo, zum Beispiel, gelang es einer Gemeinschaft hochmotivierter Kräfte inmitten chaotischer Verhältnisse Polio zu besiegen. Der letzte Fall wurde am 29.12.2000 registriert.

  

Neue Taktik

Weil zu befürchten war, dass die Spendenneigung zur Finanzierung der Impfungen in armen Ländern allmählich nachlassen würde, beschloss die Global Technical Consultive Group for Poliomyelitis Eradication (TCG) im April 2003 eine grundlegende taktische Neuausrichtung: Man empfahl, den Einsatz der Mittel auf die sieben polio-endemischen Länder Ägypten, Afghanistan, Indien, Niger, Nigeria, Pakistan und Somalia sowie auf die sechs polio-freien Länder zu konzentrieren, die am meisten für einen Re-Import der Viren gefährdet schienen: Äthiopien, Angola, Bangladesh, Demokratische Republik, Kongo, Nepal, Sudan. Mit diesem kalkulierten Risiko sollte ein K.O.-Schlag erfolgen, der aber nur sinnvoll war, wenn in allen Polio-freien Ländern Routineimpfungen und Überwachungsmaßnahmen erhöht würden. Ohne diese würde es sofort große Zahlen an ungeimpften Neugeborenen geben – und die Gefahr neuer Epidemien. Für diesen Fall bereitete die WHO einen Alarmplan zur schnellen Eindämmung vor.

Die taktische Variante war erfolgreich. Ende 2003 wurden weltweit weniger als 1.000 Infektionen gezählt. Allerdings führte die neue Taktik zu schnell aufflackernden neuen Polio-Ausbrüchen in Benin, Burkina Faso und einigen andern Ländern, die ihren Ursprung in Nigeria hatten. Immer mehr erwies sich das nördliche Nigeria als Problemfeld, weil hier aufgrund von Gerüchten, der Impfstoff sei HIV-verseucht bzw. wirke kontrazeptiv, die Herbst-NIDs abgesagt worden waren. Ähnliche Gerüchte gab es in den indischen Staaten Bihar und Uttar Pradesh.

Weil immer wieder Polio-Viren in befreite Länder eindrangen, kam es im Januar 2004 zu einer Krisensitzung in Genf, auf der die Vertreter der sechs polio-endemischen Ländern ihre Selbstverpflichtung zur Ausrottung von Polio ein weiteres Mal betonten. Bis Ende 2004 sollte der letzte Fall aufgespürt sein.

Damit war PolioPlus nicht länger eine Gesundheitskampagne, sondern ein politisches Programm, wie WHO-Koordinator Bruce Aylward bemerkte: Der Erfolg würde davon abhängen, ob die Führer der polio-endemischen Länder ihre Zusage von Genf einlösen könnten.

  

Rotary auf dem Prüfstand

Trotz allen Engagements und aller Leistungen über viele Jahre – insbesondere einer enormen Spendenbereitschaft – stieß Rotary bei den Fachleuten im Gesundheitswesen immer noch auf Vorbehalte: Eine private Organisation ohne Referenzen auf dem Gebiet öffentlicher Gesundheitsvorsorge wollte ihnen Ratschläge erteilen, wie eine Kampagne dieser Größenordnung erfolgreich zu organisieren sei? Andererseits: Rotarys Bereitschaft, in großem Umfang Polio-Impfstoff bereitzustellen, war nicht zu ignorieren. Um Vertrauen gerade auch der nationalen Regierungen zu gewinnen, wurde für die freiwilligen Helfer die Strategie gewählt, effektiv und ohne Aufheben die übernommenen Aufgaben zu erfüllen und auf jegliche Publicity für Rotary zugunsten der nationalen Behörden zu verzichten.

Mit dem Erfolg der Polio-Kampagne wurden die Fachleute in immer mehr Ländern gewahr, dass die Bekämpfung von Polio der Schlüssel zum Erfolg des Expanded Program of Immuniziation (EPI – s. Abschnitt 7) sein könnte. Polio bot oftmals den ersten Kontakt vieler Eltern mit Gesundheitsbehörden, die damit einen Einstieg zur Vermittlung anderer gesundheitsrelevanter Themen fanden, etwa die Bedeutung anderer Impfungen oder der Versorgung mit Vitamin A. Dadurch stieg aber auch das Ansehen der oft schlecht bezahlten Gesundheitsfürsorger, die ihrerseits dankbar das Engagement der Rotarier würdigten.

Zugleich wurde Rotary immer wichtiger für die Arbeit der Global Polio Eradication Initiative, weil nur diese private Organisation schnell und unbürokratisch große Summen aufbringen konnte. Beispiel Sudan: Als es gelang, 1997 den Konfliktparteien im Bürgerkrieg eine Waffenruhe für Polio-Impfungen abzuhandeln, wurden ad hoc 400.000 US-Dollar benötigt, um Impfstoff in das afrikanische Land einfliegen zu können. Rotary besorgte das Geld innerhalb weniger Tage.

Dennoch sollte der ungeheure Finanzbedarf noch manches Kopfzerbrechen auslösen. Je weiter die Impfmaßnahmen in den Armutsgebieten der Welt voranschritten, desto größer wurde der Finanzengpass bis zum geplanten Ende der Aktion. Die von Rotary für PolioPlus bereitgestellten Mittel reichten dafür keinesfalls aus: Mindestens 500 Millionen US-Dollar an zusätzlichen Beiträgen der internationalen Geber-Gemeinschaft errechnete der WHO-Koordinator Dr. Harry Hull für den Zeitraum 1994 bis zum Zieldatum 2000. Und eines wurde schnell deutlich: Die WHO hatte dieses Geld nicht und wusste auch nicht, wo es zu beschaffen war.

  

Immer wichtiger: Advocacy

Die 500 Millionen Dollar konnten vorrangig nur aus den Entwicklungshilfeetats reicher Länder und von privaten Spendern kommen, die aber für ihre Investitionen eine interessante Gegenleistung erhalten würden:
Die Regierungen der Polio-freien Länder mussten jedes Jahr Millionen Dollar einsetzen, um ihre Neugeborenen Kinder gegen die Polio-Gefahr von außerhalb zu schützen: Allein in den USA überstiegen diese Kosten 300 Millionen Dollar jedes Jahr. Die weltweite Unterbrechung der Übertragungskette würde Einsparungen von einer Milliarde Dollar pro Jahr ermöglichen.

Advocacy bei Regierungen war nicht nur eine neue Aufgabe für Rotary, es widersprach auch seiner Tradition. Dennoch übernahm es der Vorsitzende des International PolioPlus Committee, Past-Vizepräsident R.I. Bill Sergeant, ab 1994 mit seinen Mitstreitern, politische Führer auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene über den Nutzen der Polio-Kampagne auf dem Laufenden zu halten. Die Polio Eradication Advocacy Task Force unter Leitung des ehemaligen R.I. Generalsekretärs Herbert Pigman entwickelte ein Konzept, mit dem die 30 wichtigsten Geberländer ins Visier genommen wurden. Oft mit Unterstützung von WHO und UNICEF wurden Staatschefs, Regierungschefs und Parlamentarier immer wieder auf das Thema Polio angesprochen. Ein Schwerpunkt lag auf der Arbeit in den USA – mit bemerkenswertem Erfolg: Die jährlichen Mittelzuwendungen stiegen von 9,8 Millionen US-Dollar 1995 auf 133 Millionen im Jahr 2004. Auch die Regierungen von Australien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada, den Niederlanden, Taiwan und anderer Länder konnten für neue Mittel gewonnen werden.

  

Finanzierungsprobleme

Doch auch diese Mittel sollten noch nicht reichen. Auf der Suche nach weiteren Geldgebern im privaten Bereich und insbesondere bei Stiftungen stieß Pigman auf die neu errichtete United Nations Stiftung, die der Medien-Unternehmer Ted Turner mit einer Milliarde Dollar ausgestattet hatte. Gemeinsam erarbeitete man ein Konzept, mit dem weltweit private Spender für die Kampagne gewonnen werden konnten, darunter die Bill & Melinda Gates Foundation, die 50 Millionen Dollar überwies.

Eine weitere Finanzquelle wurde über die Weltbank erschlossen: Kredite für den Kauf von Impfstoff wurden zu niedrigen Zinssätzen an die Regierungen der Polio-endemischen Länder vergeben, die von privaten Geldgebern ausgelöst werden konnten. Hierbei arbeiteten Rotary, die Gates Foundation und die Weltbank erstmals in einem Matching-Verfahren zusammen.

Schließlich rief Rotary International unter Präsident Bichai Rattakul 2002/03 eine neue Spendenaktion unter den Mitgliedern aus. Immerhin waren mehr als 50 Prozent der Mitglieder erst nach der Kampagne in den 80er Jahren zu Rotary gestoßen, hatten also bislang keine Gelegenheit gehabt, ihren Beitrag zu diesem Schwerpunktprojekt ihrer Organisation zu leisten. 80 Millionen Dollar waren das Ziel – es wurden am Ende über 130 Millionen US-Dollar.

  

Was bleibt

Die Erfolge der PolioPlus-Kampagne sind immer wieder herausgestellt worden, am eindrucksvollsten mit dem Verweis auf 99 Prozent weniger Infektionen weltweit im Vergleich zum Beginn 1985. Aber das ist nur ein Kapitel der Erfolgsgeschichte. Ein weiteres betrifft die öffentliche Wahrnehmung von Rotary in vielen Ländern der Welt – und daran anschließend auch eine neue Selbstwahrnehmung der Rotarier. Oder wie es Past-Direktor R.I. Kalyan Banerjee (Indien) ausdrückte: „Zweierlei hat PolioPlus bewirkt: Die Regierungen haben Rotary entdeckt – und die Rotarier haben sich selbst entdeckt."

Die Zunahme in der öffentlichen Wertschätzung kam zum richtigen Zeitpunkt. Als in den 90er Jahren der Mitgliederzuwachs bei Rotary (und anderen Service-Organisationen) stagnierte oder gar zurückging, half PolioPlus, den Trend umzukehren. Nicht überall, aber nachweisbar in bestimmten Ländern: In der Türkei beispielsweise waren zwischen 1955 und 1985 gerade einmal 43 Clubs entstanden. Im Verlauf von PolioPlus wuchs Rotary hier um das Vierfache, auf über 200 Clubs und 7.000 Mitglieder. Auch in Afrika und Asien konnte Rotary an Ansehen gewinnen. Hier waren die Clubs oft noch zu Kolonialzeiten gegründet worden, entsprechend belastet war ihr Ruf. Erst mit PolioPlus gewann Rotary Glaubwürdigkeit und Respekt in der allgemeinen Öffentlichkeit. Jetzt wurde Rotary als eine Kraft akzeptiert, die wesentliche Fortschritte im Kampf gegen Krankheiten, Armut und Analphabetismus möglich macht.

Es wäre schön, an dieser Stelle mit der Erfolgsnachricht zu schließen, dass die Kinderlähmung besiegt sei. Das ist leider nicht möglich. Mitte 2004 (als diese Darstellung geschrieben wurde – der Übersetzer) sind Indien und Nigeria noch mitten in der Arbeit, die Überragungskette zu unterbrechen. Heute gilt nach wie vor das Versprechen, dass das Programm erst endet, wenn Polio tatsächlich besiegt sein wird.

Entscheidend aber ist: Vor vielen Jahren war der Traum einer Welt frei von Kinderlähmung ein entfernter Stern, heute ist er in Reichweite.