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Zum 200. Jahrestag des Wiener Kongresses

Als die Welt noch Frieden schließen konnte

Eberhard Straub15.06.2015

Der Wiener Kongress, dessen Friedenswerk am 6. Juni 1815 von allen Teilnehmern unterzeichnet wurde, sorgte für die längste Friedensperiode, die es in der europäischen Geschichte gegeben hatte. Diese durch kurze, regionale Kriege modifizierte Friedensordnung dauerte bis 1914. Seitdem hat Europa insgesamt nicht mehr zu einem allgemeinen Frieden gefunden. Deswegen nannte George F. Kennan, der amerikanische Diplomat, den Großen Krieg 1914–18 die „Urkatastrophe Europas“, von der es sich nicht mehr vollständig zu erholen vermochte. Die Sieger von 1814/15 verhielten sich nämlich ganz anders als die Sieger des Ersten Weltkrieges in ihren verschiedenen Pariser Vorortverträgen 1919/20.

Vor 200 Jahren dachten die Sieger nach dreiundzwanzig Jahren fast ununterbrochener Kriege seit 1792 mit dem revolutionären Frankreich und anschließend mit dem Soldatenkaiser Napoléon nicht an eine bedingungslose Kapitulation oder an einen Systemwechsel samt Austausch der Eliten und politischer sowie wirtschaftlicher Umerziehung. Frankreich wurde weiterhin als Großmacht gebraucht, um Europa wieder zu einer Ruhe von Gibraltar bis zum Ural zu verhelfen. Deshalb sollte die Großmacht im Westen Europas nicht mit demütigenden Forderungen belästigt oder gar als Feind kriminalisiert werden. Die Sieger – Russland, Preußen, Österreich-Ungarn, England, Spanien und Schweden – verstanden ihren Krieg nicht als Strafaktion gegen einen „Schurkenstaat“, wie man heute sagen würde. Sie untersuchten keine Kriegsschuldfrage und vermieden den Vorwurf der Kriegsverbrechen. Stattdessen hielten sie sich noch einmal an das alte ius publicum europeum, das den Krieg wie ein Duell unter moralisch und rechtlich gleichberichtigten Gegnern auffasste: Mit dem Ende der Feindseligkeiten sollte die unterbrochene Normalität wieder erneuert werden – einer Absicht, der mit leidenschaftlichen Erinnerungen an schreckliche Ereignisse im Kriege nicht gedient sein konnte.

Staat vor Nation

Die Staatsmänner wollten sich nicht von der Vergangenheit überwältigen lassen, obschon die revolutionären Regierungen und Napoléon ihren Krieg als ersten totalen Krieg geführt hatten. Außerdem waren alle Herrscher in Europa gezwungenermaßen oder freiwillig länger oder kürzer Kollaborateure Napoléons gewesen, so dass es besser war, über die Vergangenheiten den Schleier des Vergessens zu werfen. Die Sieger  richteten sich nach der herkömmlichen, moralisch-neutralen Staatsräson, der sie noch einmal Geltung verschafften. Nur einzelne, moralisierende Nationalisten unter Polen, Italienern oder Deutschen, insgesamt eine Minderheit, hielten diese moralische Indifferenz für empörend. Wegen der Erfahrungen mit der imperialistischen, „unersetzlichen“ Nation und deren maßlosem Egoismus, also mit Frankreich als Großfranzösischem Reich, entschieden sich die Staatsmänner auf dem Wiener Kongress gegen das Nationalitätsprinzip und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es war ihrer Ansicht nach vollkommen unbrauchbar für Europa, weil die Völker in verschiedenen Staaten bunt durcheinander und miteinander lebten. Die Siegermächte entschieden sich für ein Europa der Staaten, nicht der Nationen.

Diese Übereinkunft lag nahe, da Russland und Österreich Staaten mit vielen Völkern waren, und ein anderes Vielvölkerreich, das Osmanische, unmittelbar an Österreich und Russland grenzte. Fünf Großmächte – die vier wichtigsten Sieger mit Frankreich zusammen – bildeten von nun an als „Konzert der Mächte“ ein Staaten-System kollektiver Sicherheit, in dem auch die kleinen Staaten ihren Schutz und Vorteil finden sollten. Der russische Kaiser Alexander hätte es übrigens gern schon zu einem Weltsystem der führenden Staaten erweitert, unter Einschluss der USA. Damit stieß er allerdings auf den vehementen Widerstand der Briten, die ihre Herrschaft auf den Meeren und in den Kolonien nicht von europäischen Ordnungsvorstellungen abhängig machen wollten.

Die Wiener Friedensordnung und ihr System kollektiver Sicherheit, auf Konferenzen mit allen Mitteln der Diplomatie den Ausbruch von Kriegen zu vermeiden oder diese wenigstens zu lokalisieren und somit das Gleichgewicht der Kräfte vor grundsätzlicher Erschütterung zu bewahren, beschränkten sich deshalb nur auf Europa. Auch das Osmanische Reich war bis 1856 nicht in diese erste „europäische Gemeinschaft“ eingeschlossen, was seit dem Griechischen Befreiungskampf ab 1821 zu den verschiedenen Orientkrisen und den Balkankriegen führte, die die Wiener Friedensordnung immer wieder herausforderten, ohne sie freilich grundsätzlich in Frage zu stellen. Denn es gelang immer wieder auf Friedenskonferenzen – wie dem Berliner Kongress 1878 und noch auf den Londoner Konferenzen 1913 – Kompromisse zu finden, die Europa insgesamt im Gleichgewicht erhielten. Das ging während des Großen Krieges ab 1914 verloren.

In diesem ersten allgemeinen Krieg seit hundert Jahren, der als Balkankrieg begann und rasch zu einem erbitterten Kulturkampf zweier Machtblöcke wurde, kam den Europäern ihre Fähigkeit abhanden, einen Verständigungsfrieden ohne Sieger und Besiegte wie 1815 zu vereinbaren. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte erwiesen sie sich als ratlos und baten eine außereuropäische Macht – die USA – als Vermittler um Hilfe. Präsident Wilson verwarf das europäische Konzert der Mächte als frivol und unsittlich. Er erkannte in der Geheimpolitik des europäischen Staatensystems mit ihren Intrigen und Spionagetätigkeiten die Ursache für den Weltkrieg, weshalb es durch eine neue Ordnung, garantiert vom Völkerbund, ersetzt werden sollte. Das europäische Konzert der Mächte war im Großen Krieg seit der Russischen Revolution von 1917 zusammengebrochen. Beim Pariser Frieden 1919 fehlte Russland, das sich im Bürgerkrieg befand, Österreich-Ungarn hatte sich aufgelöst, und das Osmanische Reich wurde von den Siegern willkürlich zerschlagen. Das Deutsche Reich musste sich den Forderungen der Sieger beugen. Es war der erste Friedenskongress in der europäischen Geschichte seit 1648, in der die Vertragspartner nicht gleichberechtigt miteinander verhandelten.    

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker sollte von nun an für Ordnung sorgen. Doch diese Idee erwies sich sogleich als ungeeignet für eine Friedensordnung. Die Schwäche Russlands und die von den Siegern gewünschte Auflösung der k.u.k.-Monarchie leitete mit den vielen neuen Staaten von Finnland bis hinunter nach Jugoslawien die Balkanisierung Europas ein, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Das Osmanische Reich, in einzelne Staaten willkürlich zerstückelt, fiel als Ordnungsfaktor endgültig aus. Die Folgen spüren wir in den zahlreichen Krisen im Nahen Osten und auf dem Balkan bis heute.

Zerschlagung der Alten Welt

Europa fand nicht zur Ruhe nach 1919. Alle Staaten waren unzufrieden mit ihren zufälligen Grenzen. Bei den neuen Staaten handelte es sich weiterhin um Vielvölkerstaaten, allerdings ohne Bereitschaft, den mehr oder weniger großen Minderheiten das Eingewöhnen in die neuen Verhältnisse rechtlich zu erleichtern. Daraus entwickelten sich sofort erhebliche Schwierigkeiten und Kriege. Die Revision der Pariser Verträge begann 1920 mit dem Griechisch-Türkischen Krieg, in dem zum ersten Mal mit ethnischen Säuberungen, als „Bevölkerungsaustausch“ deklariert, nationale Homogenität erreicht werden sollte. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker führte, wie der österreichische Dichter Franz Grillparzer 1848 im Sinne der Wiener Ordnung von 1815 resümierte, von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.

Reine Improvisation blieben sämtliche Abmachungen mit Russland oder der Sowjetunion. Diese europäische Großmacht, indessen System- und Klassenfeind, wollten seine ehemaligen Verbündeten an den Rand Europas gedrängt wissen. Dieses Ziel hatten die Westmächte England und Frankreich 1853–56 schon einmal verfolgt, um im Namen der Freiheit und des Lichtes das Reich der Despotie und der Finsternis, auf ein Großfürstentum Moskau zu beschränken. Damals jedoch vergeblich, weil Preußen und der Deutsche Bund an ihrer Neutralität festhielten, damit einen Weltkrieg verhinderten und Russland seinen Platz im gemeinsamen europäischen Staatensystem sicherten.

Zu einer gesamteuropäischen Ordnung in diesem Sinne kam es nach 1917 und nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. Während des Großen Krieges verloren Begriffe wie europäisch und Europa ihre Substanz. Die Wiedergewinnung eines geistigen Begriffes von Europa, die Hugo von Hofmannsthal 1921 für die dringlichste Aufgabe hielt, ist seitdem nicht mehr gelungen. Denn ohne Russland bleibt Europa unvollständig. Daran erinnert eindringlich der Frieden von Wien 1815. Damals waren die Vertreter der Großmächte so selbstverständlich europäisch wie ein Baum grün ist, und im unruhigen Frankreich sahen sie nicht den Feind von gestern oder einen künftigen Friedensstörer, sondern vielmehr den unentbehrlichen Partner für die allgemeine Ruhe Europas in der Gegenwart und Zukunft. Heute ist es Russland, das gebraucht wird, um Europa wieder in einem Konzert der Mächte zu vereinen, das von  allgemeiner Staatensympathie zusammengehalten wird, von der Friedrich Schiller einst begeistert gesprochen hatte. 

Eberhard Straub
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Büchern gehören unter anderem „Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (2008, Landt Verlag) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014). Zuletzt erschien „Das Drama der Stadt: Die Krise der urbanen Lebensformen“ (Nicolai Verlag, 2015). eberhard-straub.de