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Peters Lebensart

Das Frühstücksdogma

„Ohne vernünftiges Frühstück geht man nicht los“ haben wir gelernt. Aber wenn das so wichtig ist, warum ignorieren es die Menschen anderer Kulturen?

Peter Peter01.03.2017

Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendessen wie ein Bettelmann.“ Das populäre Sprichwort illustriert, welch un­­angefochtenen Rang die erste Morgenmahl­zeit in unserer Gesellschaft einnimmt. Ausführlich Frühstücken ist gesund, erzählen uns Ernährungs­bera­­ter, Fernsehmagazine und Krankenkassenbro­schü­ren. Das geht so weit, dass debattiert wird, ob der Schulanfang nach hinten verlegt werden solle, damit die Kinder län­ger frühstücken und dann leistungsop­ti­mier­ter dem Un­terricht folgen können. Die Frage stellt sich: erwächst dieses Dogma wirklich nur aus diät­medizinischen Erwägungen oder werden hier kulturelle und soziologische Wunschbilder und Zielvorstellungen wissen­schaft­lich unterfüttert?

Der Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass es auch anders geht. Gerade mediterrane Länder mit einem geringen Fettleibigkeitsfak­tor entpuppen sich als dezidierte Frühstücksverächter. Lassen wir die Bemerkung, dass die römischen Legionen mit nichts als einem Glas Wasser zum Frühstück ein Weltreich erobert haben, als Skurri­lität außen vor. Doch der Kalauer, ­worin sich das griechische vom italienischen Frühstück unterscheide, hat einen wahren Kern: Italienische piccola cola­zione bedeutet einen Espresso und eine Zigarette, grie­chisches pro­ino einen Kafedaki und zwei Zigaretten! Mediterrane Völ­ker und Franzosen lieben es, nüchtern in den Tag zu gehen, allenfalls ein Sesamkringel oder Croissant zum Heißgetränk zu verzehren und das oftmals im Stehen und in der Öffentlichkeit, wo man meist disziplinierter zulangt als im trauten Kreis der Familie.

Über die Gründe kann man spekulieren. Hat Früh­stücksmentalität mit dem Klima zu tun? Fürchten sich Südländer davor, eine üppige Mahlzeit im Bauch durch den heißen Tag mitzuschleppen, während Nord­länder sich mit Speck, Blutwurst und Rühreiern gegen die Kälte wappnen? Dafür sprächen englische full breakfasts: Hammelnieren, geräucherte skipper und Berge von buttered toast sind zwar auf dem Rückzug, aber in Brexit-Zeiten immer noch patriotischer als ein frugales continental breakfast. Sind die Frühstücksfischbuffets skandinavischer Länder mit Herings­salat, Räucheraal und Mayonnaisekrabben einfach Reaktion auf die Minusgrade?

Oder spielt unbewusst die Reli­gion mit? Ausgedehnte Sonntagsfrühstücke, wo der ausgeräumte Kühlschrank schon mal den Feier­tagsbraten ersetzt, sind primär evangelische Familienliturgie. Schön zu beobachten in unserer Brunchhauptstadt Berlin: Dort wird Frühstücksgemütlichkeit mit Smoothies, Wurst- und Käse­platten gern bis 18 Uhr ausgedehnt. Im strengen Katholizismus hingegen gilt formal ein Nüchternheitsgebot vor Messe und Eucharistie, um das Blut Christi nicht mit ordinären Speisen zu vermengen. Somit fände die gern behauptete Lebenslust katholischer Länder ein theologisches Argument. Während die Betonung der Morgenmahlzeit eher für Arbeitspflichten des ­Tages stählt (der mit kargem Abendbrot endet), führt Askese nach dem Aufstehen dazu, die potentiell genussvolleren, geselligeren und alkoholischeren Mittag- und Abendessen zu betonen.

Für wen essen wir eigentlich? Für maximale Fitness und Einsetzbarkeit im Arbeitsprozess oder für unser persönliches Wohlbefinden? Unter welchen Umständen essen wir? Entspannt, mit Freunden oder Fa­milie oder hastig vor der Arbeit, um unser Ernährungssoll abzuarbeiten? Wir sollten den Mut haben, beim Früh­stück unseren individuellen konstitutionsabhängigen Essrhythmus zu finden – sei’s ein Early morning-Müsli oder doch das gute alte Pausenbrot, auf das wir uns dann den ganzen Vormittag freuen.

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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