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Gedanken an Papst Benedikt XVI.

Der Intellektuelle auf dem heiligen Stuhl

Vor zehn Jahren, am 19. April 2005, wurde Joseph Kardinal Ratzinger zum ersten deutschen Papst seit der Reformation gewählt. In der deutschen Öffentlichkeit blieb dieses Datum weitgehend unberücksichtigt. Der Verleger Manuel Herder erinnert sich an einen großen Lehrmeister des Glaubens.

Manuel Herder15.05.2015

Am besten versteht man Benedikt XVI. durch seine Bücher. Im Jahre 2011 haben wir also alle Bücher von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zusammengetragen. Es war die Ausstellung aller jemals veröffentlichten Bücher aus seiner Feder. Alle Sprachen, alle Ausgaben, jeweils ein Exemplar. Ich hatte diese Ausstellung ins Leben gerufen anlässlich der Reise von Papst Benedikt nach Deutschland. Gezeigt wurde sie in Castel Gandolfo, im Campo Santo und im Verlagshaus Herder in Freiburg, vor und während des Papstbesuchs. Benedikt hat sie freilich nur in Castel Gandolfo besichtigt. Im Rahmen einer Audienz konnten wir die Ausstellung eröffnen, die FAZ titelte „Benedikts Buchmesse“.

Bei der Ausstellung in Castel Gandolfo saß Papst Benedikt auf einem goldenen Stuhl, vor ihm – auf zwei Tischen – eine lange Reihe seiner Bücher. Um ihn herum, links und rechts der Büchertische, Menschen, die sich alle dem Papst zuwenden. Zwischen seinen Büchern allerdings, auf dem glatt polierten Marmorboden der Sala Svizzera, spiegelte sich das Bild des Papstes. Diese Situation bringt für mich ein Phänomen zum Ausdruck, dessen wir uns mit zunehmendem Abstand vom Pontifikat Benedikts bewusst werden: nämlich die große Diskrepanz in der Wahrnehmung dieses Papstes durch diejenigen, die ihn durch seine Texte, Schriften und Predigten verstehen wollen, und durch diejenigen, die sein Pontifikat nach den üblichen tagespolitischen Maßstäben der Beurteilung öffentlich auftretender Personen bewerten.

Tiefe Wurzeln

Erschließt man sich das Pontifikat Benedikts XVI. durch seine Schriften und Texte, ergeben sich Überraschungen. Diese haben natürlich mit dem Autor und Verfasser dieser Texte zu tun, aber auch mit dem Leser selbst. Das Denken Benedikts XVI. ist geprägt von einer großartigen Kenntnis der europäischen Geistes-, Kultur- und Theologiegeschichte. Die Werke der Denker, die unsere europäische Geistesgeschichte prägen, sind ihm ebenso gegenwärtig wie die der schaffenden Künstler und Musiker. Die Erwartungen der Leser an diesen Autor entstammen ihrem je eigenen Werdegang und ihren je eigenen Erwartungen an die Ämter, die Joseph Ratzinger in der Kirche innehatte. Entsprechend vielgestaltig sind ihre Zugänge zu den Texten Benedikts; genauso unterschiedlich beurteilen sie, was sie lesen. Das scheint Papst Benedikt nicht gestört zu haben, im Gegenteil. Seine Jesus-Bücher veröffentlicht er unter dem Namen Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und schreibt im Vorwort zum ersten Band: „Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ‚nach dem Angesicht des Herrn‘ (vgl. Ps 27,8). Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“

Nach der Veröffentlichung der Jesus-Bände erhielten wir im Verlag und erhielt ich persönlich sehr viele Rückmeldungen von Lesern. Für mich war es faszinierend zu erleben, wie verschiedene Leserinnen und Leser jeweils ganz unterschiedliche Interpretationen und persönliche Rückschlüsse aus dem Text zogen. Es kam mir vor wie mit Menschen, die seit vielen Jahren oder Jahrzehnten Sonntag für Sonntag durch den gleichen großen botanischen Garten oder Park spazieren gehen. Sie kennen den Ein- und Ausgang, die Öffnungszeiten, wissen, wo der Kiosk ist und wo welche Pflanzengruppen, von kleinen Farnen bis zu den großen Mammutbäumen, angesiedelt sind. Durch die Lektüre der Jesus-Bücher war ihnen, als ob jemand sie bei der Hand genommen und durch den ihnen vertrauten Garten geführt habe. Er nahm sie mit zu den einzelnen Pflanzen und erklärte ihnen die Herkunft, Geschichte und Besonderheiten jeder Pflanze. Wo sie ursprünglich heimisch sind, welcher Forscher sie als erster entdeckte und nach Hause mitbrachte, wie sie zu pflegen sind und welche Medikamente man aus diesen Pflanzen gewinnen kann. Aus einem zunächst indifferenziert als Ganzes wahrgenommenen Garten tauchten unzählige Details auf. Vielen Leserinnen und Lesern wurde so ein neues Verständnis zu Eigen für die einzelnen Bestandteile, die diesen Garten – um im Bild zu bleiben – ausmachen. Jeder hat an unterschiedlicher Stelle zugehört und nicht alles gleichermaßen angenommen. Jeder hat jedoch erkannt, dass es im Verständnis des eigenen Glaubens an Gott bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Anregungen gibt, die für ihn, für sie von persönlicher Bedeutung sind. Den Leserinnen und Lesern hat Papst Benedikt somit einen direkten Einblick in sein Denken geschenkt. Er hat sie – uns alle – auf die Grundlagen des christlichen Glaubens hin orientiert.

Ob in den Katechesen, die er anlässlich der traditionellen Mittwochsaudienz hielt, oder in den Jesus-Bänden, Benedikt nahm seine Zuhörer und Leser mit auf den Weg zu den Fragen des persönlichen Glaubens an Gott und Jesus Christus. Er ist der Papst, der den Glauben in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte. Benedikt der Glaubenslehrer.

Triumph der Schrift

Spätere Generationen werden sich wundern, was über diesen Papst in den zeitgenössischen Zeitungen zu lesen war. Während der Zeit seines Pontifikates hatten selbstverständlich diejenigen Benedikt-Interpreten die Oberhand, die die höchsten Einschaltquoten und Tagesauflagen garantierten. In der Retrospektive wird jedoch denjenigen am meisten Glaubwürdigkeit eingeräumt werden, die das Pontifikat durch ihr Verständnis der Texte erschließen können. Dann werden nicht mehr Pressemeldungen und Zeitungsartikel zu Rate gezogen werden, sondern die Bücher von Benedikt XVI.

Das erste Buch seines Pontifikats war „Werte in Zeiten des Umbruchs“. Ein Taschenbuch, dessen Manuskript wir im Januar 2005 erhielten und welches somit genau zum Konklave fertig war. Ich hatte einige Vorabexemplare mit nach Rom genommen und trug eines davon in meiner Manteltasche, als ich auf dem Petersplatz stand und die freudige Nachricht von der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst miterleben konnte. Da, wo ich stand, waren Jugendgruppen in der Nähe. Schon bald begannen sie den Namen des neuen Papstes in Sprechchören zu rufen, begleitet von rhythmischem Händeklatschen. Zunächst noch etwas unbeholfen, aber schon nach wenigen Minuten in der Intonation, wie wir sie während des Pontifikates von den Gläubigen so oft zu hören bekamen:„Be-nedetto, Be-nedetto“. Mit der Begeisterung der jungen Leute vom Petersplatz (und nach einer mehr oder minder durchfeierten Nacht) kam ich tags darauf nach Freiburg in den Verlag zurück, um mit der Arbeit für den neuen Papst zu beginnen. Erst später bemerkte ich, dass meinen katholischen Landsleuten die Petersplatz-Erfahrung und die dabei erlebte Begeisterung für den neuen Papst und das neue Pontifikat fehlten und viele aus einer Haltung des ratlosen Grübelns erst im Laufe der Zeit herausfinden konnten.

Das neue Pontifikat begann für unseren Autor Joseph Ratzinger also mit dem Buch „Werte in Zeiten des Umbruchs“ und damit auf den Bestsellerlisten unseres Sprachraumes. Ab dann machten wir in kurzer Zeit möglichst alle Texte des neuen Papstes lieferbar. Viel später, nämlich zur Deutschlandreise Benedikts im Jahre 2012, begegnete ich einer mit mir gleichaltrigen Psychologin, die selbst fernab von Glaube oder gar katholischer Erziehung in einer halb deutsch-, halb englischsprachigen Patchwork-Familie aufgewachsen war und nach der Wahl Benedikts nur per Zufall in diesem Taschenbuch zu lesen begann. Es begeisterte sie derart, dass sie sich nach und nach mit den Büchern des neuen Papstes beschäftigte und über diese einen Zugang zur Gottesfrage in ihrem eigenen Leben fand.

Kritik und Erkenntnis

Die Theologie ist eine Geisteswissenschaft. Das bedeutet, dass sie diskursiv angelegt ist. Für Theologen beinhaltet dies die Pflicht, sich mit Zunftgenossen auseinanderzusetzen, ihre Aussagen auf Plausibilität hin zu prüfen. Die Ergebnisse müssen zur Kritik führen, nur so lässt sich neue Erkenntnis gewinnen. Benedikt hat im oben erwähnten Vorwort deutlich gemacht, dass dies auch für die Beschäftigung mit seinem Werk gilt.

Wer es aufmerksam gelesen hat, konnte schon 2010 in „Licht der Welt“ nachlesen, dass ein Papst, wenn er zu der Erkenntnis kommt, dass er den Auftrag seines Amtes „physisch, psychisch oder geistig“ nicht mehr „bewältigen kann“, „ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht [hat] zurückzutreten“. Und er benannte auch den Zeitpunkt eines Rücktrittes, nämlich „in einer friedlichen Minute, oder wenn man einfach nicht mehr kann“.

Das Verständnis dieses Papstes führt über seine Bücher. Bei der anfangs erwähnten Ausstellung waren es 600. Alle Sprachen, alle Ausgaben. Weltrekord.