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Warum das Erlebnis der Teilung noch immer die Deutsch-Deutschen Befindlichkeiten prägt

Die Mauer, Pan American und der Duft der großen, weiten Welt

Karl Schlögel28.06.2011

Die Klage über die „Mauer im Kopf“ gehört zu den eingängigsten und stabilsten Klischees der Zeit nach 1989. Die Bilder von der Mauer und der geteilten Welt sind heute überlagert von jenen zu Ikonen gewordenen Bildern vom „Fall der Mauer“, jenem Moment also, in dem eine ganze Epoche zu Ende ging. Das sichtbare physische Bauwerk, das am 13. August 1961 nach und nach in immer größerer Perfektion errichtet wurde und das am 9. November 1989 geöffnet wurde, erwies sich offenbar als vergänglicher als jene unsichtbare Grenze, die weitgehend intakt geblieben scheint. Die Klage über die Mauer im Kopf wird immer dann angestimmt, wenn man meint, auf die Schwierigkeiten und Defizite der deutschen Vereinigung hinweisen zu müssen. Beispiele gibt es zuhauf: Wenn die Westdeutschen es vorziehen, ihren Urlaub in Österreich oder auf Mallorca zu verbringen und nicht auf Usedom oder Rügen, dann ist gleich von der „nach wie vor existierenden Mauer in den Köpfen“ die Rede. Wenn inzwischen zwar viele im Westen die Schönheit Dresdens kennengelernt haben, aber mit dem Namen einer anderen großartigen Stadt – Görlitz – nach wie vor nicht viel anzufangen wissen, dann muss auch hier die Mauer in den Köpfen als Erklärung herhalten. Wenn in Westberlin aufgewachsene Berliner sich eher am Savignyplatz oder am Kurfürstendamm zu Hause fühlen, während Ostberliner sich besser am Alexanderplatz oder im Prenzlauer Berg auskennen, dann wird auch dies als Symptom für die Dauerhaftigkeit einer mentalen Grenze angesehen, die auch da noch respektiert wird, wo die reale Grenze aus Mauer, Stacheldraht, Kontrollposten längst verschwunden ist. All diese Beobachtungen sind ja zutreffend, aber sie werden in einem Ton des Vorwurfs vorgebracht, der wohl bedeutet, dass es nicht schnell genug gegangen sei nach 1989, und dass sich die Leute noch immer dem „Alp der toten Geschlechter“, wie Marx die kollektive Erinnerung einmal charakterisiert hat, fügten. Im Bild von der „Mauer in den Köpfen“ steckt der Vorwurf, dass man immer noch nicht und nicht schnell genug aufgeräumt hat mit der geistigen Hinterlassenschaft von Jahrzehnten Kalter-Kriegs-Zeit. Man muss aber nur kurz innehalten, um zu verstehen, dass sich Erfahrungshorizonte – und darum handelt es sich bei der „Mauer im Kopf“ – nicht einfach per Knopfdruck abstellen lassen. Sie sind generiert worden, sie haben eine lange Vorgeschichte, sie haben sich über viele Jahrzehnte, ja Generationen aufgebaut. Die Mauer war eben nicht nur ein Bauwerk, sondern ein ganzer physisch-kultureller-mentaler Komplex, und es gibt niemanden, der im geteilten Nachkriegsdeutschland lebte oder aufgewachsen ist, der von diesem Komplex nicht tangiert worden wäre. Denn die Mauer war die prägnanteste Gestalt eines Zustandes: der Teilung einer Stadt, eines Landes und einer Nation, der Teilung Europas, ja der Welt. Alles, was dort geschah, hatte Konsequenzen noch für die entferntesten Winkel, weitab der Demarkationslinie. Um dies zu beweisen, bedarf es keiner historischen Spezialuntersuchung, denn fast jeder hat auf seine Weise „Mauererfahrungen“ gesammelt. Die Weltgeschichte machte einen, ob man wollte oder nicht, zum Augenzeugen einer dramatischen Konstellation. Das haben schon die westdeutschen Schulklassen erfahren, die in den 1960er Jahren nach Berlin kamen und dort nach politischer Information und Unterweisung Besichtigungsprogramme absolvierten, einen Besuch auf der „anderen Seite“ in Ostberlin inklusive. Es hat sich eingeprägt ein Berlin, in dem noch immer Ruinen und riesige Brachen zu sehen und der Krieg noch immer sichtbarer war als in den Städten des westdeutschen Wiederaufbaubooms. Hier war angehaltene Zeit, eine Stadt im Brennpunkt der Weltgeschichte zwar, aber doch aus der Zeit herausgefallen, eine Insel mit einem seltsamen völkerrechtlichen Status und nachhaltig gestörter Normalität. Wie sollte man vergessen können, was für Generationen Teilungserfahrung geworden ist!

Grenz-Erfahrungen

Zum Mauerkomplex gehören natürlich jene Inschriften an den Übergängen: „You are leaving the American Sector/Vous sortez du Secteur Americain“, dann unlesbar für die meisten: „Vy vyeszhaete iz amerikansogo sektora“, gefolgt in kleinen Buchstaben und auf Deutsch: „Sie verlassen den amerikanischen Sektor“. Zum Mauer-Komplex gehörte das Erklimmen jener Aussichtsplattformen, aus Holz gezimmert, die es einem erlaubten, auf die andere Seite zu blicken und jene Grenzer, die einen selber mit ihren Ferngläsern ins Visier nahmen, zu betrachten. Zur Grenze gehörte die hundertfach erfahrene Prozedur der Grenzüberschreitung, jene rites de passage, die ein halbes Jahrhundert zum Alltag der geteilten Metropole gehörten. Mauer- und Grenzerfahrung zuhauf und für jedermann: Das konnten die Grenzübergänge sein, vor allem das grandiose Labyrinth am S- und U-Bahnhof Friedrichstraße. Wo schon gab es Bahnsteige, die von bewaffneten Leuten bewacht wurden, wo man durch ein verwirrendes unterirdisches System von Tunneln und Übergängen unter der Mauer hindurch die Seite wechselte, und dies alles in einem Licht und in einer Atmosphäre, an die man sich auch bei häufigen Besuchen nicht gewöhnen konnte. Jene Mischung aus Desinfektionsmittel, Ritualen einer penetranten und pedantischen Bürokratie, jene hinter einem Schalter oder Sehschlitz verschanzte Macht, deren Willkür ein jeder ausgeliefert war. Unvergessen die Sorgen, die mit dem Zwangsumtausch von D-Mark verbunden waren: all die Überlegungen, wie man das Geld wohl am sinnvollsten ausgeben könnte oder ob man es Freunden überließ. Grenze und Grenzüberschreitung, Schleusenerfahrung als gewöhnlicher Alltag: Trotz Routine ging es nie ohne Stress, das Gefühl des Ausgeliefertseins, die gesteigerte Nervosität und die Erleichterung, wenn es wieder gut gegangen war. Wer über die Grenze ging, trat in eine andere Zeit ein: verlangsamt, irgendwie angehalten. Es war eine Erfahrung, nicht nur ein Propagandaslogan, dass es auf der einen Seite, im Schaufenster des Westens, hell war und glitzerte und auf der anderen Seite irgendwie abgedunkelt und grau. Zur „Mauer im Kopf“ gehört es, wenn Passagiere der U-Bahn Tag für Tag, Jahre um Jahre unter dem Territorium von Ostberlin hindurchfuhren, ohne anzuhalten und ohne aussteigen zu können. Aber auch da, wo die Mauer außer Sichtweite war, war sie horizontbildend. Die Mauer hat bestimmt, welche Wege benutzt und welche gemieden wurden, sie hat eine Topographie der Umwege und „mental maps“ aufgelöster Stadtstrukturen produziert. Zur Mauer im Kopf gehörte das Arrangement mit den Verhältnissen, die zwar absurd, aber eben doch real waren. Von ihnen hing ab, wo jemand arbeitete, der Studienort, die Frage, welche Fremdsprachen in der Schule erlernt wurden, welche Theater man besuchte und welche Filme man sah oder nicht ansehen konnte. Nur für eine von einer Mauer und Stacheldraht umschlossene Stadt konnte ein Flughafen wie Tempelhof eine so große, ja mythische Bedeutung gewinnen. Tempelhof war nicht nur das große Flugfeld mit dem spektakulären Bau des Architekten Ernst Sagebiel, nicht nur der Hub der Piloten, die im Minutentakt die Blockade durchbrochen hatten. Nach 1961 war Tempelhof das Tor zur Welt. Über die Korridore ging es an den Kontrollstellen in Dreilinden oder Heerstraße vorbei – ungehindert nach Hamburg, Frankfurt, München. Pan American gehört zum geteilten Berlin wie die Mauer selbst. Pan American steht für Anschluss an die Welt und den „Duft der großen weiten Welt“. Es hat sich so eingeprägt wie John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“, gesprochen am Schöneberger Rathaus – auch dieses Gebäude ein zentraler lieu de memoire im gesamten Mauer-Erinnerungskomplex. Das alles – Bilder, der Sound, Gerüche, bittere und glückliche Momente – gehören zur „Mauer im Kopf“. Die Mauer war nicht nur ein hässliches und pedantisch errichtetes Bauwerk, sondern ein ganzer Kosmos. Man kann Nachkriegsdeutschland nicht beschreiben oder gar verstehen ohne jene „Mauer im Kopf“. Sie war lebensprägend, es ist sinnlos, gegen sie anzurennen oder sie wegreden zu wollen. Sie ist integraler Bestandteil einer Generationserfahrung, die dabei ist, Geschichte zu werden. Die Mauer im Kopf wird verschwinden in dem Maße, wie an die Stelle der „Erlebnisgeneration“ von einst eine neue tritt, die in einen ganz eigenen Horizont hineingewachsen ist – in die Welt nach 1989. Auf sie warten ganz neue Erfahrungen mit neuen und anderen Grenzen.

Karl Schlögel
Prof. Dr. Karl Schlögel war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Zu seinen zahlreichen Büchern gehören u. a. „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (Hanser Verlag, 2015) und „Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt“ (C.H. Beck, 4. Auflage, 2018).