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Das Schicksal der Kinder des Krieges und der Nachkriegszeit

Die Sehnsucht nach der Wahrheit

Über das Ende des Zweiten Weltkriegs ist scheinbar alles gesagt. Und doch gibt es immer wieder neue Ansätze für die Diskussion über diesen historischen Einschnitt. So sind zum 70. Jahrestag des 8. Mai 1945 gleich mehrere Bücher erschienen, die das Schicksal der Frauen und Kinder bei Kriegsende und in den Jahren danach thematisieren.

Ute Baur-Timmerbrink15.05.2015

Hierzulande werden mit dem Begriff „Kriegskind“ in erster Linie Deutsche bezeichnet, die in den 1940er Jahren geboren wurden und in ihrer Kindheit Kriegshandlungen, Flucht, Vertreibung und den Verlust von Angehörigen erfahren haben. Viele haben mit diesen traumatischen Erlebnissen bis heute zu kämpfen. Aber es gibt auch hunderttausende europäische Kriegskinder, deren deutsche oder österreichische Väter Angehörige der Wehrmacht waren. Die wenigsten dieser Kinder haben ihren Vater kennengelernt, nicht wenige suchen bis heute nach ihm. Überall dort, wo Deutschland während des Zweiten Weltkrieges Krieg führte, Länder besetzte und Soldaten stationierte, brachten einheimische Frauen Kinder dieser Soldaten zur Welt. Geschätzt wird, dass bis zu 200.000 Kinder deutscher Soldaten in Frankreich und etwa 10.000 in Norwegen, 6.000 in Dänemark, 4.000 in Finnland, 40.000 in Belgien und 50.000 in den Niederlanden geboren wurden. Unbekannt ist die Zahl der Kinder von deutschen Wehrmachtssoldaten in Italien, Griechenland, Spanien, in der ehemaligen Sowjetunion und den osteuropäischen Länder und anderen Kriegsgebieten des „Dritten Reiches“.

Kindheit ohne Eltern

Viele dieser Kriegskinder wuchsen in Heimen auf. Sie wussten oft Jahrzehnte lang nicht, wer ihre Eltern waren. Sie galten nach dem Ende des Krieges in ihren Heimatländern als „Kinder des Feindes“ und waren zum Teil großen Repressalien ausgesetzt. Noch im Erwachsenenalter wurde ihnen die Suche nach ihrer Abstammung verwehrt. In Dänemark, Norwegen, Finnland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden gründeten die Betroffenen in den 1980er und 1990er Jahren Kriegskindervereine, um sich gegenseitig bei der Suche nach dem Vater, und oftmals auch der unbekannten Mutter, zu unterstützen. Gemeinsam erreichten viele von ihnen bei ihren jeweiligen Regierungen, dass ihnen ihre Geburtsurkunden oder Adoptionsunterlagen ausgehändigt wurden, die sie zur Aufklärung ihrer Herkunft dringend benötigten. Die Deutsche Dienststelle (WASt) für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht in Berlin unterstützt die europäischen Kriegskinder seit Jahrzehnten bei der Suche nach ihren Vätern.

Ähnlich sind die Lebensläufe der Lebensbornkinder. Der „Lebensborn e.V.“ wurde am 6. Dezember 1935 auf Veranlassung von Heinrich Himmler gegründet und war organisatorisch in die SS eingebunden. Er diente auf spezifische Weise der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Während des Krieges unterstützte der Lebensborn die außereheliche Zeugung und förderte die Geburten von Besatzungskindern in Norwegen, Belgien, Frankreich und Luxemburg. Allein im Deutschen Reich (einschließlich Österreich) besaß der Lebensborn neun Entbindungs- und Kinderheime. Ein Großteil der Lebensborn-Standesamtsakten wurde vernichtet, andere lagen lange in Washington und sind erst seit wenigen Jahren beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen zugänglich.

Auch die meisten „Lebensbornkinder“ wurden über ihre Herkunft im Unklaren gelassen. Wie viele der ca. 8000 in Deutschland geborenen noch nach ihrer Herkunft suchen, ist unbekannt. Nur eine kleine Gruppe traf sich 2002 bei Georg Lilienthal, dem Verfasser des Buches „Lebensborn e.V.“ und gründete 2006 den Verein „Lebensspuren e. V.“ mit dem Ziel, ihre berechtigten Ansprüche auf Akten und Dokumente gemeinsam durchzusetzen. Eine unbekannte Zahl lebt noch heute ohne Kenntnis ihrer Eltern oder ihrer wahren Nationalität.

Die verschiedenen Kriegskindervereine haben 2007 ein europäisches Netzwerk gegründet, das sich jährlich in Berlin trifft. 2009 wurde beschlossen, dass sich das europäische Netzwerk als „Born Of War – international network“ auf einer dreisprachigen Website präsentiert. Derzeit ist Arne Øland aus Dänemark Sprecher des BOWin. Er hat seine deutsche Familie erst 2013 gefunden.

Kinder des „Feindes“

Zwischen 1945 und 1955 wurden in Deutschland und Österreich zahlreiche Kinder geboren, deren Väter alliierte Besatzungssoldaten waren und meistens vaterlos aufgewachsen sind. Die Mehrzahl dieser Besatzungskinder stammt von Soldaten der amerikanischen Armee ab. Historiker und Historikerinnen gehen von ungefähr 200.000 Kindern in Deutschland und 50.000 in Österreich aus. Im Jahre 1956 gab es für Westdeutschland die bisher einzige Erhebung des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. Danach ging man von 68.000 Kindern aus. Die Dunkelziffer liegt aber, da ist sich die Geschichtswissenschaft einig, in beiden Ländern weit höher.

Die deutschen Besatzungskinder alliierter Väter bewegt wie viele der europäischen Kriegskinder mit einem deutschen oder österreichischen Soldatenvater ein Leben lang die gleiche Frage: Wer war mein Vater? Ihr Schicksal war häufig mit gravierenden Tabuisierungen in ihrem familiären und sozialen Umfeld verbunden. In vielen Geburtsurkunden war der Vater namentlich nicht benannt. Die Mütter haben ihren Kindern häufig auch später den Namen des Vaters nicht preisgegeben.

Auch die Besatzungskinder der Nachkriegszeit wurden in der Öffentlichkeit als „Kinder des Feindes“ wahrgenommen, obwohl ihre Besatzungsväter de facto keine Feinde mehr waren. Ihre Mütter mussten oft mit Beschimpfungen und Verachtung leben oder wurden als Verräterinnen gebrandmarkt und ausgegrenzt. Selbst in den eigenen Familien erfuhren sie selten moralische und materielle Unterstützung. Das galt in ganz besonderem Maße für Frauen, die mit einem Soldaten der französischen Besatzungsmacht mit afrikanischen Wurzeln oder einem afro-amerikanischen Soldaten eine Beziehung hatten. Die Stigmatisierung hinterließ lebenslange Spuren. Das mag ein Grund dafür sein, dass viele Mütter der Besatzungskinder bis heute schweigen.

Mühevolle Aufarbeitung

Viele deutsche Kinder sind im und nach dem Krieg vaterlos aufgewachsen. Ihr Vater war gefallen, vermisst oder befand sich in Kriegsgefangenschaft. Viele von ihnen litten unter dieser Vaterlosigkeit. Doch im Unterschied zu den charakterisierten Kriegs- und Besatzungskindern aber wussten sie immerhin, wer ihr Vater war. Sie trugen seinen Namen, von ihm wurde erzählt, es gab Fotos. Das ist bis heute in den allermeisten Fällen für die Kriegs- und die Besatzungskinder ein unerfüllter Wunsch. Die ungeklärte Frage nach dem Vater lässt viele nicht zur Ruhe kommen.

Den meisten Besatzungskindern war es lange nicht bewusst, dass man sie als „Kinder des Feindes“ betrachtete. Sie sind vaterlos oder mit einem Stiefvater aufgewachsen und wurden oft über ihre biologische Herkunft im Unklaren gelassen. Die Erfahrungen und Belastungen in ihrer Kindheit wurden zum ersten Mal 2013 an den Universitäten Leipzig und Greifswald in einer Studie zu den psychosozialen Aspekten des Aufwachsens der Besatzungskinder untersucht. Diese zeigt, dass ein großer Teil der Besatzungskinder sehr prägende und schwierige Erfahrungen in Kindheit und Jugend gemacht hat und deutlich stärker belastet war und zum Teil immer noch ist als die gleichaltrige deutsche Allgemeinbevölkerung.

Ich versuche seit 2003 mit Hilfe der englischen Hilfsorganisation GItrace Besatzungskinder bei der Suche nach dem unbekannten Vater zu unterstützen. Es gelingt uns vor allem, amerikanische Väter zu finden, weil wir in den USA die Unterstützung des NPRC (National Personnel Record Center) in St. Louis haben. Frankreich, England und Russland bieten eine ähnliche Unterstützung bis heute nicht an.

Psychologen, Historiker und Sozialwissenschaftler haben 2008 das internationale Forschungsprogramm „Children born of War and Occupation“ gestartet. Bis dahin waren die Lebensläufe der Kriegs- und Besatzungskinder kaum wissenschaftlich untersucht worden.

Die aktuellen Forschungsbemühungen führen dazu, dass Kriegs- und Besatzungskinder zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt sind und helfen ihnen bei der Bewältigung ihrer negativen Erfahrungen.


  •  Ute Baur-Timmerbrink
    Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen
    240 Seiten, Christoph Links Verlag 2015, ISBN 3-86153-819-9, 19,90 Euro
Ute Baur-Timmerbrink
Ute Baur-Timmerbrink geboren 1946 in Oberösterreich, erfuhr im Alter von 52 Jahren, dass ihr Vater ein amerikanischer GI war. In ihrem Buch „Wir Besatzungskinder“ (Ch. Links Verlag, Berlin 2015) schildert sie in Porträts das Schicksal von Besatzungskindern aus Deutschland und Österreich. www.christoph-links-verlag.de