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Editorial

Eine fragwürdige Legende

Editorial - Eine fragwürdige Legende
© Jessine Hein / Illustratoren

René Nehring über das Bild von Ostdeutschland

01.02.2018

Der „Osten“ ist so etwas wie der Gottseibeiuns der deutschen Politik. Wann immer ein Ereignis die öffentlichen Gemüter mit Schrecken bewegt und dabei ein Bezug zu den neuen Bundesländern erkennbar ist, findet sich ein Kommentar, der das Geschehen mit „typisch Osten“ erklärt.

Das gilt auch dann, wenn es vergleichbare Vorfälle im Westen der Republik gibt. Wenn Ausländer von Skinheads in Magdeburg oder Dresden gejagt werden, werden nicht nur die Täter genannt, sondern auch die Region, aus der diese kommen, problematisiert. Bei vergleichbaren Straftaten im Westen – wie den Brandanschlägen von Mölln und Solingen 1992/93 – fehlt der Hinweis auf eine bestimmte regionale Prägung. Als 2005 herauskam, dass eine Frau
in Brandenburg neun eigene Babys getötet hatte, führten Politiker dies u.a. auf „die erzwungene Proletarisierung in der DDR“ zurück. Doch wenn ein schwerer Kindesmissbrauchsfall wie jüngst in Freiburg die Öffentlichkeit erschüttert, erklärt niemand dies mit einer typisch badischen Sozialisation.

Auch der gegenwärtige Populismus wird vor allem als östliches Problem diskutiert. So wird den Polen, Ungarn oder Russen ob ihrer Regierungen schon mal in toto eine mangelnde demokratische Reife unterstellt. Dass es auch in den Niederlanden und in Frankreich starke populistische Kräfte gibt, wird ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass eine populistische Bewegung gerade die Briten aus der EU führt. Und als nach der Bundestagswahl im Herbst nach einer Erklärung für das starke Abschneiden der AfD gesucht wurde, wurde schnell auf den hohen Stimmenanteil der Partei in den neuen Bundesländern verwiesen – der in der Tat überdurchschnittlich war. Besonders hart langte dabei der Historiker Magnus Brechtken zu, der kurz vor Weihnachten in der FAZ nach den Ursachen der hohen Prozentsätze für AfD und Linkspartei fragte und u.a. schrieb: „Wir haben es in den neuen Bundesländern mit dem verbreiteten Phänomen eines nachhängenden Deutschland-Bildes autoritärer Tradition zu tun, dessen Wurzeln weit in die Zeit vor 1945 zurückreichen.“

Abgesehen davon, dass die AfD auch im Westen zweistellige Ergebnisse eingefahren hat, kann dieser Befund nicht stimmen. Wie erklärt sich sonst, dass ausgerechnet den Menschen in der DDR, in Polen, Ungarn, der CSSR und den baltischen Staaten 1989/90 eine friedliche Revolution geglückt ist? Und wie passt ein solcher Befund zu dem Umstand, dass aus diesen angeblich autoritär geprägten Landstrichen ein Bundespräsident hervorgegangen ist, der weithin als „Glücksfall für die Demokratie“ bewertet wurde, sowie eine Kanzlerin, die von der New York Times als „letzte Verteidigerin des Westens“ gepriesen wurde?

Die Beiträge im aktuellen Heft belegen, dass auch sonst die Formel „fortschrittlicher Westen – rückständiger Osten“ zu kurz greift. Nicht zuletzt zeigen sie, dass der Osten – gerade in den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg – für große Kulturlandschaften steht, die den Vergleich mit dem Westen nicht zu scheuen brauchen.

Es grüßt Sie herzlichst Ihr

René Nehring
Chefredakteur