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Rotary und die Obdachlosenhilfe

„Es kann jeden treffen“

Jeweils vom 1. November bis 31. März bietet die Berliner Stadtmission ein Kältehilfe-Programm für Obdachlose an und bewahrt damit Menschen vor dem sicheren Erfrierungstod. Ein Ortstermin mit Direktor Hans-Georg Filker (RC Berlin-Tiergarten) in der Notunterkunft

Insa Fölster17.12.2014

An diesem Abend Anfang November ist es noch relativ mild. Die Notunterkunft der Kältehilfe auf dem Gelände der Berliner Stadtmission hat erst seit wenigen Tagen geöffnet. Dennoch: Das Wachpersonal trägt hochgeschlossene Parka-Jacken und Mützen. Und beim Gedanken an eine Nacht unter freiem Himmel zu dieser Jahreszeit fröstelt es einen automatisch. Kein ferner Gedanke für die meisten von denen, die hier auf den Treppenstufen vor dem Gebäudeeingang der Notunterkunft sitzen und auf Einlass warten. Doch heute Nacht wollen sie es warm und trocken haben.

Sobald die Tür aufgeht, müssen sie sich im Gegenzug an eine Reihe von Spielregeln halten: keine Drogen, kein Alkohol, keine Waffen, keine Tabletten. Und keine Gewalt. Direkt am Eingang tasten Mitarbeiter der Unterkunft die Gäste ab und verstauen ihre Habseligkeiten für die Zeit ihres Aufenthalts im Nebenraum. Der Einlass verläuft friedlich. Ein transsexueller Gast feilscht gerade darum, seine Hormone mit in den Aufenthaltsraum nehmen zu dürfen. Es gibt Verständigungsprobleme, die sich schnell lösen. Denn vom Abend vorher ist bekannt, dass er drei Sprachen spricht. Schnell findet sich eine Mitarbeiterin, die mit ihm auf Spanisch weiterredet. Mehrsprachigkeit ist ein wichtiges Thema. Ein Großteil der Festangestellten spricht Deutsch und eine slawische Sprache. Denn viele Gäste kommen aus Osteuropa. Der Ausländeranteil liegt bei etwa 80 Prozent. Vor 25 Jahren, als Hans-Georg
Filker seine Stelle antrat, sei es genau umgekehrt gewesen. „Die Not wird nicht größer, aber sie verändert sich“, sagt der 64-Jährige, der auf 26 Jahre Stadtmission zurückblicken kann, wenn er am 1. April 2015 in den Ruhestand geht. Damals, Ende der 1980er Jahre, gab es zum Beispiel auch „ein Nicht-Verhältnis zwischen sozialer Arbeit und der Polizei. Heute haben wir ein enges Verhältnis, und die Polizei hat gelernt, anders mit hilflosen Personen umzugehen.“

Die Not im Blick

Diese Einstellung wünscht sich Hans-Georg Filker auch für die Gesellschaft. Sie sollte „einen Blick haben für Menschen, die in Not sind“. Einen Beitrag, dass diese Not für Menschen transparent gemacht wird, leistet auch die Stadtmission mit ihrem Kältebus. Unübersehbar fährt er zwischen November und März nachts durch die Straßen Berlins und hält dort an, wo eventuell Hilfe dringend benötigt wird. Kältebus-Mitarbeiter bieten denen an, die in dieser Nacht ohne Dach über dem Kopf sind, sie zu einer Notunterkunft zu bringen.

„Oft sind die Menschen selber nur einen Herzschlag von der Obdachlosigkeit entfernt.“ Diese These von Hans-Georg Filker würde auch Christian Liste, Rotarier im RC Berlin-Potsdamer Platz, sofort unterschreiben. Er ist ein „glühender Fan von der Leistung, die in der Kältehilfe der Stadtmission erbracht wird“. Einmal im Jahr geht er mit Interessierten aus seinem Rotary Club zum traditionellen Martinsgans­essen der Stadtmission, stärkt den Mitarbeitern im persönlichen Gespräch den Rücken und sammelt Spenden unter seinen Clubfreunden. Und wo immer er die Gelegenheit hat, sensibilisiert er seine Mitmenschen für das Thema und sagt: „Gehen Sie mit offenen Augen durch die Straßen und rufen Sie den Kältebus, wenn es nötig ist. Es kann jeden treffen.“

Querschnitt der Gesellschaft

Auch an diesem Novemberabend in der Notunterkunft hat sich ein Querschnitt der Gesellschaft versammelt. Einigen ist die Obdachlosigkeit kaum anzusehen, anderen dafür umso mehr. Generell ist die Stimmung heute gelassen, denn die Gästezahl ist übersichtlich. Für diese Nacht werden 40 bis 60 Personen erwartet. An extrem kalten Tagen ist es das Vierfache. Heute Abend geht jeder friedlich seinen Bedürfnissen nach. Dort sitzt eine Gruppe zusammen und unterhält sich, im Hintergrund läuft leise Musik. Am Nachbartisch spielt eine Mitarbeiterin mit zwei Gästen Mühle. Andere holen sich etwas zu essen vom Tresen, hinter dem Mitarbeiter Suppe und Brötchen zubereiten. Einer liegt in der Ecke und schläft, andere laufen etwas rastlos durch den Raum. Auch im Arztzimmer herrscht reger Betrieb. Hier haben die Gäste regelmäßig die Möglichkeit, sich untersuchen und behandeln zu lassen. An diesem Abend hat Prof. Dr. Wolfgang Rutsch den Dienst übernommen. Bei seinen Patienten in der Unterkunft stehen Hautkrankheiten, Fehlernährung und Zahnprobleme auf der Tagesordnung. Es ist eine völlig andere medizinische Arbeit, als er sie aus dem Herzkatheter-Labor an der Berliner Charité kennt, das er 14 Jahre lang leitete. Aber sie erfüllt ihn. Er und seine Familie haben „ein reiches Leben“. Durch seinen ehrenamtlichen Einsatz möchte der Professor etwas zurückgeben, und das nicht nur durch Spenden. Die Patienten „kommen nicht zum Verbinden und sie nehmen auch ihre Tabletten nicht“, berichtet Wolfgang Rutsch aus seiner Erfahrung. Aber in diesem Moment im Behandlungsraum schließt er für einige wertvolle Minuten die Tür und konzentriert sich voller Herzblut auf ihre Bedürfnisse. Und sie nehmen dankbar seine Hilfe an.

Helfen kann jeder

Wer helfen möchte, hat viele Möglichkeiten, ob durch persönlichen Einsatz, Geld- oder Sachspenden. So stellt zum Beispiel der RC Berlin-Tiergarten jährlich eine fünfstellige Spendensumme bereit. Für die Kältehilfe benötigt die Stadtmission jedes Jahr einen größeren sechsstelligen Betrag an Spenden. Und allein in der Notunterkunft sind für die Wintersaison 200 Ehrenamtliche notwendig. Doch der Einsatz will wohlüberlegt sein. „Hilfe ist kein touristischer Ausflug in etwas Exotisches“, sagt Hans-Georg Filker. Wer in der Notunterkunft arbeitet, braucht Empathie und gleichzeitig die Fähigkeit zur Distanz. „Wir erleben hier jede Saison, dass jemand einen Obdachlosen mit nach Hause nimmt, weil er es nicht mehr aushält, und dann beklaut wird. Wer naiv rangeht, ist aufgeschmissen“, sagt Pfarrer Hans-Georg Filker. Und es ist ihm anzumerken, dass er auch für sich persönlich schon lange einen Weg gefunden hat, mit Menschen zu arbeiten und ihnen zu helfen, die meistens ganz und gar nicht nach seinen Vorstellungen agieren, die ihn betrogen und hintergangen haben. „Man muss mit der Unvollkommenheit leben“, sagt er. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Ihm hilft dabei seine Verankerung im christlichen Glauben: „Ohne dass ich nicht selbst die Erfahrung gemacht hätte, von Jesus Christus gehalten zu werden, hätte ich es nicht durchgehalten.“ Auch die Stadtmission ist tief verwurzelt in der Tradition der christlichen Botschaft: Jeder ist von Gott geliebt.

Christliche Botschaft

Diese Botschaft wird auch immer wieder den Mitarbeitern und Gästen vermittelt. Bevor sich im Winter allabendlich um 21 Uhr die Türen der Notunterkunft öffnen, kommen die Mitarbeiter zu einem Geistlichen Wort zusammen. Erst danach werden die Aufgaben verteilt. An diesem Abend sind sechs Hauptamtliche und sechs Ehrenamtliche in der Unterkunft im Einsatz. Eine von ihnen ist Ann-Kristin Pirschel. Gerade hat sie ihr Studium „Soziale Arbeit“ abgeschlossen und ist jetzt hauptamtlich in der Stadtmission beschäftigt. „Es ist eine tolle Arbeit, um Menschen in Liebe zu begegnen“, sagt sie aus tiefer innerer Überzeugung. Die vermittelt sie auch den Gästen an diesem Abend, als sie sich plötzlich wie selbstverständlich einen Stuhl mitten ins bunte Treiben stellt und anfängt, ein christliches Lied zu singen. Die Andacht ist eröffnet. Nach der musikalischen Einstimmung steht sie auf und richtet warme, enthusiastische Worte an die Anwesenden. Viele verstehen ihre Sprache nicht. Es sieht anstrengend aus, wie die zierlich gebaute junge Frau gegen das Stimmengewirr im Raum anredet. Aber sie tut es voller Leidenschaft, und vor allem, um eine Botschaft loszuwerden, mit der sie die Andacht schließt: „Ich weiß, dass ihr geliebt seid von Gott.“ Die Zeremonie dauert vielleicht fünf Minuten. Aber es sind wertvolle Minuten der Besinnlichkeit, die an diesem Ort eine besondere Bedeutung haben. Die Menschen genießen die Aufmerksamkeit der fröhlichen Mitarbeiter, die sich in bequemer Kleidung unter die Gäste mischen – ihnen ein offenes Ohr schenken, und manchmal auch eine kleine Berührung.

Im Schlafhaus

Es ist kurz vor 23 Uhr und in den Schlafräumen ist noch nicht viel los. Nicht alle werden später hierherkommen. „Einige haben eine Schlafhaus-Aversion, und manche haben einfach Angst im Dunkeln. Im Aufenthaltsraum geht das Licht nie aus“, sagt Florian Börner aus dem Leitungsteam. Im Schlafhaus liegen die kargen Isomatten dicht an dicht auf dem Steinfußboden und warten darauf, dass in dieser Nacht zumindest einige darauf für ein paar Stunden in den Schlaf finden. Bequem soll es nicht sein. „Es ist kein Ort, an dem man sich einrichten soll“, sagt Hans-Georg Filker. Der einzige persönliche Gegenstand, den die Gäste bekommen, falls sie wiederkommen, ist eine Zahnbürste mit dem eigenen Namen drauf. Frauen und Männer werden im Schlafbereich strikt getrennt. „Frauen sind eine spezielle Gruppe unter den Obdachlosen. Sie machen nur etwa zehn Prozent aus“, sagt Florian Börner. Ihnen möchte er hier in der Unterkunft so gut es geht eine Schutzatmosphäre bieten. Dafür greift er auch mal hart durch, wenn es sein muss: „Wenn ein Mann auf die Frauentoilette geht, schmeiße ich ihn raus.“

Beschwerlicher Weg

Jeden Morgen macht ein Sozialarbeiter den Gästen ein Gesprächsangebot, um mit ihnen einen Weg zu finden, die Obdachlosigkeit möglicherweise wieder zu verlassen. Rein theoretisch muss in unserem Land niemand obdachlos sein. Praktisch jedoch ist der Übergang zurück in ein bürgerliches Leben für manche eine unüberwindbare Herausforderung. Die Gründe für die Wohnungslosigkeit sind oft tief verwurzelt in der Seele dieser Menschen. „An der Stelle liegen für mich die besonderen Herausforderungen an die Sozialarbeit der Zukunft“, sagt Hans-Georg Filker. „Die Hilfe muss weitergehen und gleichzeitig sehr sensibel sein, weil sie in einen intimen Bereich des Menschen geht.“

Draußen vor der Tür ist die Schlange noch nicht abgerissen. Eine junge Frau hat ihren acht Wochen alten Welpen Sammy dabei, den sie auf der Straße gefunden hat. Er habe es viel besser bei ihr als ein Hund, der in einer Wohnung aufwächst. Nur zu kalt sei auch ihm ab und zu – „ein Straßenkind eben“, sagt sie und streichelt liebevoll über die Babykleidung, die sie ihm übergezogen hat, damit er nicht friert. Gleich wird die Tür der Notunterkunft für die beiden aufgehen. Heute Nacht soll auch Sammy es ganz warm haben. Bis acht Uhr in der Frühe. Dann müssen alle gehen.