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Zu einem Aspekt der deutschen Teilungsgeschichte

Flucht und Freizügigkeit

Peter Steinbach28.06.2011

Fluchthelfer – dieser Begriff hatte in den siebziger und achtziger Jahren einen zwiespältigen Klang. Vielfach ging es um die Frage, ob Fluchthilfe nur aus kommerziellen Gründen geleistet wurde und deshalb moralisch anrüchig war. Die prinzipielle Frage hätte auch anders gestellt werden können: Was kann der Einzelne tun, um Menschen zu helfen, einem Gewaltregime zu entkommen? Ist er verpflichtet, anderen zu helfen, ihre Grundrechte zu verwirklichen? Muss derjenige, der hilft, Benachteiligung oder Risiken, selbst Lebensgefahren riskieren, um anderen zu helfen? Diese Frage stellte sich für viele Deutsche, die den Unrechtsstaat durchschauten, nicht nur im Jahre 1933 und in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Nach 1945 zog man aus der Zerstörung der Grundrechts- und Verfassungsordnung erneut Konsequenzen. Die neuen Verfassungen, die 1949 in beiden deutschen Staaten verabschiedet wurden, bekannten sich zu Grund- und Menschenrechten und in besonders herausgehobener Weise zum Recht auf Asyl – gleichzeitig Entfaltungs- und Abwehrrecht. Dabei zeigte sich bald, dass das Zeitalter der Diktaturen keineswegs beendet war. Im Westen wurde die Totalitarismus-Theorie zur Grundlage einer Deutung, die „rot“ gleich „braun“ und links gleich rechts setzte. Im Osten bekannte man sich zum „Antifaschismus“, sah in der kapitalistischen Gesellschaft den Kern einer ungebrochenen Kraft des Faschismus und lenkte gleichzeitig von politischer Unterdrückung im eigenen Machtbereich ab. Hüben wie drüben empfanden viele, dass sich in der Tat viele Dimensionen und Phänomene der Beherrschung der Bevölkerung ähnelten. Dies bedeutete nicht, NS-Staat und SED-Regime gleichzusetzen.

Vielschichtiger Widerstand

Widerstand gegen Gewalthaber ist immer vielschichtig. Er kann sich aus dem Zentrum der Macht gegen Machthaber richten. Einzelne Bürger können sich individuell widersetzen und ein Zeichen ihres Eigensinns, ihrer Unabhängigkeit und ihres Anstands geben. Manchmal versuchen Gegner der Diktaturen, Flugblätter zu verfassen, Gesinnungsfreunde zu sammeln, Parolen an die Wände zu schreiben, zu demonstrieren und auf jede Weise deutlich zu machen, dass sie sich dem weltanschaulichen Führungsanspruch der Machthaber nicht unterwerfen. Man kann ein Regime auch von außen bekämpfen oder sich mit denen solidarisieren, die sich den Gewalthabern nicht unterwerfen. Man kann sie bekannt machen, ihre Botschaften verbreiten. Schließlich kann man versuchen, von außen kommend den Menschen, die nicht in einem Gewaltregime leben wollen, zu entkommen. Hier wird deutlich: Mögen sich NS-Staat und SED-Regime auch unterscheiden – der Widerstand als Versuch, das Individuum vor staatlicher Willkür zu retten, bleibt vergleichbar.

Nach 1933 reichten einzelne „stille Helfer“ und „unbesungene Helden“ den Bedrohten die Hand und unterstützten sie bei ihrer Flucht ins Ausland. Nach 1945 konnte man sich zunächst kaum vorstellen, dass es wieder einmal eine Zeit geben könnte, in der Hilfe von außen die letzte Rettung gegenüber Machthabern bedeutete. Schlagartig sichtbar wurde die nach der Abschnürung der DDR durch den Mauerbau. Nur wenige, streng kontrollierte Schlupflöcher boten sich. Kleine Gruppen, häufig Studenten der West-berliner Universitäten, taten sich zusammen, um die Flucht von Menschen aus der DDR zu organisieren. Sie besorgten Ausweise, sandten Kuriere, stimmten sich mit denen ab, die sie durch die Grenze „schleusen“ wollten. Sie untertunnelten Mauer und Todesstreifen, präparierten Fluchtfahrzeuge, organisierten Auffangstellungen im Westen, halfen bei der Durchquerung der Grenzgewässer. Fluchthelfer begaben sich in Lebensgefahr, ihnen drohte Entführung, aber auch der Tod, und wenn sie lebend in die Hände der „Grenzsoldaten“ fielen, die den „antifaschistischen Schutzwall“ zu „schützen“ hatten, dann erwarteten sie lange Zuchthausstrafen unter elenden Haftbedingungen. Ihre Moralität wurde durch systematisch vorbereitete und verbreitete, nicht selten in der Westpresse kolportierte Verleumdungen infrage gestellt. Man unterstellte ihnen, nicht selbstlos geholfen zu haben, sondern aus der Fluchthilfe ein Gewerbe gemacht zu haben. Von großen Summen war die Rede, vielen Tausend Mark. Dies führte dazu, dass Fluchthelfer politisch zunehmend isoliert waren. Sie galten als Störenfriede, als Geschäftemacher und Menschenhändler, weniger als Gegner des SED-Staates, als Verteidiger der Menschenrechte.

Mangelnde Anerkennung

Es hat lange Zeit gebraucht, bis Fluchthilfe als ein Weg anerkannt wurde, den SED-Staat zu schwächen, dass Flucht als Ausdruck eines Widerstandswillens gewürdigt wurde, der für die eigene Person ein großes Risiko bedeutete. Eine der Gruppen, die diesen Versuch auf besondere Weise verkörperte, war die Gruppe von Bodo Köhler, Dieter Thieme und Detlef Girrmann. Aufhebens haben sie von ihren Taten, die sich mit zivilem Mut paarten, niemals gemacht. Bodo Köhler, dessen Bekenntnis zur bürgerschaftlichen Zivilität ansteckend war, hat später seine Rolle stets heruntergespielt. Thieme und Girrmann waren nicht nur irritiert, als ihre Handlungsweise in den Zusammenhang deutscher Widerstandsgeschichte gegen zwei Diktaturen gerückt wurde – sie lehnten diesen Begriff als moralisch zu überhöht entschieden ab.

Zu denjenigen, deren Einsatz für die Freizügigkeit und Menschenwürde wir würdigen müssen, gehören aber auch die Menschen, die ihre Angst überwanden und sich „Fluchthelfern“ anvertrauten und sie aktiv bei der Realisierung ihrer Fluchtpläne unterstützten. Fluchthilfe hat in der Tat zwei Seiten: die der Helfer und die von denen, die fliehen. Wann werden wir es schaffen, beide zusammen zu würdigen? Zu den Arbeiten, die das Gedenken an den „Mauerbau“ vor 50 Jahren um einen wesentlichen Aspekt bereichern, gehört eine Dokumentation (Maria Nooke und Lydia Dollmann, Hg.: „Fluchtziel Freiheit: Berichte von DDR-Flüchtlingen über die Situation nach dem Mauerbau“, Chr. Links 2011). Sie rücken Menschen, die etwas wagen und dafür große Opfer bringen, vor unser Auge, wie Girrmann, Thieme und Köhler. Sie nehmen nicht nur Stellung, sie klügeln nicht, machen nicht nur Versprechungen, sondern sie handeln und belasten durch ihr mitmenschliches Handeln, ihre entschlossene Solidarität mit Menschen, die auf ihren Grundrechten beharren, ihre eigene Zukunft. Beeindruckend ist auch, dass sie später keine Ansprüche auf Anerkennung und Würdigung erhoben. Sie hätten das Notwendige und Selbstverständliche getan – das war ihre Botschaft. Sie betonten niemals und mit keinem Wort ihre Leistungen, beschworen nicht die Gefährdung ihrer Person und wiegelten unser Lob, unsere Anerkennung und Bewunderung eher peinlich berührt ab. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die Leistung der Flüchtenden und ihrer Helfer. Sie bringen eine Diskussion zum Schweigen, die wohl immer nach dem Untergang einer Diktatur geführt wird. Oft streiten diejenigen, die lange eine Gewaltherrschaft ertragen haben, – übrigens im Westen wie im Osten – über ihre angeblich so entscheidende Mitwirkung am Sturz des Regimes.

Herausforderung der Despoten

„Nicht Öl, sondern Sand im Getriebe der Zeiten zu sein“, das ist gerade in den auf Stimmungsmobilsierung zielenden Diktaturen von exemplarischer Bedeutung. Anpassung kann deutlich machen, welche Bedeutung gerade Widerständigkeit und Widerspruch als Alternative zur Folgebereitschaft hatte. Mag es historisch betrachtet auch kaum zu bezweifeln sein, dass die diktatorischen Regime in der Regel nur stürzen können, wenn die Konstellationen der internationalen Politik dies begünstigen, so ist doch ebenso wenig zu bezweifeln, dass Machthaber durch Widerspruch und Widersetzlichkeit herausgefordert werden und spüren, wie brüchig das von ihnen errichtete Zwangssystem ist. Das Beispiel der Fluchthilfe-Gruppe um Detlef Girrmann, Bodo Köhler und Dieter Thieme erinnert daran, dass Menschenrechte nicht nur unteilbar sind, sondern dass man für sie eintreten muss, wo man steht. Alle drei schufen unter Lebensgefahr denjenigen, die sich ihnen anvertrauten, den Spielraum, den Menschen brauchen, um ihren Freiheitswillen auszuleben. Aber es bedurfte auch dieser Menschen, denen sie halfen. Denn auch sie verkörperten den Willen zur Freiheit und zur Freizügigkeit, zum Widerstand und zur Selbstbehauptung. Anpassen wollten sie sich nicht, sondern dem Regime entkommen – risikobereit und konsequent. Auch sie sind Teil einer deutschen Gesamtgeschichte.

Peter Steinbach
Peter Steinbach (RC Baden-Baden) ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und Professor für neuere und neuste Geschichte an der Universität Mannheim. Zu seinen Büchern zählen u. a. "Der 20. Juli 1944" (Siedler 2004) und "Franz Schnabel. Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates" (Lukas 2010) www.gdw-berlin.de