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Titelthema: US-Präsidentenwahl

Kalifornien – so wie Trump und ich es erinnern

Lange haben die Amerikaner gebraucht, um sich einzugestehen, dass ihre Vergangenheit leuchtender war als die Gegenwart. In seinem Wahlkampf erinnerte der künftige US-Präsident an diese schmerzliche Gewissheit

David Gelernter01.12.2016

Kalifornien steht, und wird immer dafür stehen, für die beeindruckende Anstrengung, aus nichts als Geld und gutem Wetter eine anspruchsvolle Kultur zu schaffen. Kalifornien ist Disneyland, der berühmte Vergnügungspark, der 1955 direkt vor den Toren von Los Angeles eröffnete.

Das Ziel war, eine großartige Touristen­attraktion zu schaffen, die jeder auf der Welt sehen wollen würde, und diese aus dem Nichts zu erbauen – keine tolle Stadt, keine Geschichte, keine Kunst, keine land­schaft­liche Schönheit. Anaheim liegt in der Nachbarschaft von Disneyland, ist jedoch nichts­sagend und schal. Kann man einen Zielort aus nichts als Ambitionen, leerem Platz und viel Geld bauen? Ja. Disney ­bewies dies – wenn man einen Vergnügungspark baut.

Künstlicher Sehnsuchtsort

Disneyland war ein enormer Erfolg. Als ich Kind war, verbrachte mein Vater – von Beruf theoretischer Physiker und einer der Gründer der Künstlichen Intelligenz mit seiner 1957 berühmt gewordenen Maschine zum Nachweis des Geometrie-Theorems – einen Sommer in Berkeley. Hauptsächlich sprach er mit seinem Freund und spä­teren Nobelpreisträger Luis Alvarez über Physik; die Überschneidung zwischen der Physik und der Künstlichen Intelligenz war bereits damals faszinierend und auf­regend. Ich lebte in diesem Sommer zusammen mit Vater, Mutter und meinem jüngeren Bruder in Berkeley, und wir fuhren nach Los Angeles, um Hollywood und Disneyland zu besuchen. Ich war acht Jahre alt und verbrachte eine wundervolle Zeit. Ich bin nie wieder dort gewesen; meine Frau und ich hofften, einmal mit unse­ren eigenen Kindern dorthin zu fahren, aber es kam nie dazu – die Kinder waren groß, bevor wir wieder zurück in die richtige Gegend kamen. Sie scheinen es nie vermisst zu haben.

Sie hatten Glück. Aufgrund einiger großzügiger Einladungen nach Deutschland und Frankreich im Laufe der Jahre konnten wir Familie Europa bereisen (als ich sechs Jahre alt war, verbrachte mein Vater ein halbes Jahr am CERN, wir lebten in Genf, seit diesem kurzen Einblick ist mir Europa immer natürlich vorgekommen). Unser Lieblingsort in Europa ist Florenz, das wir in den letzten neun oder zehn Jahren alle vier gemeinsam bestimmt acht oder neun Mal besucht haben. Disneyland und Florenz sind „Gegenstücke” – in man­cherlei Hinsicht identisch, in anderer ein genauer Gegensatz.

Selbstverleugnung Europas

Die historische Innenstadt von Florenz besitzt ungefähr die Größe von Disneyland. Auch Florenz war ein teurer Ort, um zu bauen. Und auch Florenz ergibt einen wundervollen Vergnügungspark und eine wunderbare Touristenattraktion. Aber es ist gleichermaßen das Zentrum der westlichen Zivilisation.

Und dennoch scheint sich Europa selbst dieses Umstands nicht bewusst zu sein. Die Europäer sind fasziniert von Apple-­Computern, machen sich jedoch nicht die Mühe, ihre eigene schöne Elektronik zu bauen. Die Medici wären heute die dominanten Kräfte auf dem Gebiet der Mobiltelefone und der „Ensemble Computer“ gewesen, die ihnen folgen werden: vier oder fünf separate Teile, die zusammenarbeiten, die man gleichzeitig trägt. Ich kann die Alternative zum iPhone mit schmerzlicher Klarheit sehen – eine Ellipse, die be­quem in Ihre Handfläche passt, mit einem separaten, aufklappbaren Bildschirm bei Bedarf – die beiden passen ordentlich in Ihre Tasche bzw. Ihr Portemonnaie. Sie verfügt über eine radikal neue Software, die um die Zeit anstatt um den Raum orga­nisiert ist – eine Chronik Ihres Lebens, während es gerade stattfindet. Warum kann ich kein europäisches Unternehmen oder eine Universität überzeugen, so etwas zu bauen? Weil man Disneyland anstelle von Florenz gewählt hat.

Eric Freeman und ich – Freeman war mein Diplomand in den 1990ern und wurde dann (welch Ironie) Technischer Direktor und wichtige Führungskraft im Unternehmen Walt Disney – schrieb in den 1990ern einige Patente, die sich als wertvoll herausstellten. Wir besitzen sie nicht mehr. Die aktuellen Eigentümer beschuldigten Apple, gegen die Patente zu verstoßen. Anstatt die Situation vor Gericht aus­zukämpfen, zahlte Apple eine Lizenzgebühr von fünfundzwanzig Millionen Dollar. Un­sere Ideen, meinen wir, drehen sich alle­samt um Apples Software. Eric und ich haben jeweils einen Anteil von einem Prozent der Gebühr erhalten, rein als freundliche Geste der Gruppe, die inzwischen die Patente besitzt. Ich habe meinen Teil verwendet, um einen Porsche zu kaufen.

David Gelernter
Prof. Dr. David Gelernter ist Professor für Informatik an der Yale University und Publizist. Er schreibt u.a. für die Washington Post, die Los Angeles Times und die FAZ. Zuletzt erschien "Gezeiten des Geistes, Die Vermessung unseres Bewusstseins" (Ullstein 2016). www.yale.edu