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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

17.03.2015

er war der Gründer des deutschen Nationalstaats, er führte die Unfall-, Kranken- und Rentenversicherungen ein, und er schuf mit dem Kaiserreich einen vorbildlichen Rechtsstaat: Dennoch ist der am 1. April 1815 in Schönhausen an der Elbe geborene Otto v. Bismarck alles andere als unumstritten. Während die einen seine historischen Verdienste loben, kritisieren andere seine „Machtpolitik“. Vor allem die innenpolitischen Kämpfe gegen die vermeintlichen „Reichsfeinde“ aus der Sozialdemokratie und dem Katholizismus hinterließen Wunden, die bis heute nicht ganz verheilt sind. Die Ambivalenz Bismarcks und seines Handelns spiegelt sich unter anderem in zahlreichen Etiketten wider, die dem langjährigen preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler im Laufe der Zeit angeheftet wurden: Vom sprichwörtlich gewordenen „Eisernen Kanzler“ über „Urpreuße und Reichsgründer“ (Ernst Engelberg) oder „weißer Revolutionär“ (Lothar Gall) bis hin zum „Dämon der Deutschen“ (Johannes Willms) reichen die Schlagworte.

Die Beschreibungen Bismarcks und seiner Zeit waren freilich immer mehr als bloße historische Rückschau, sondern stets auch ein Spiegel der jeweiligen Gegenwart. Im Kaiserreich wurde der „Reichsgründer“ – schon zu Lebzeiten – als Erfüller eines vermeintlich jahrhundertelangen Sehnens aller Deutschen nach Einheit gefeiert (wobei geflissentlich übersehen wurde, dass dieses Reich ohne die österreichischen Landsleute stattfand). In der Weimarer Republik galten die Bismarck-Jahre angesichts der „Schmach von Versailles“ nach dem Ersten Weltkrieg als eine Art „gute alte Zeit“. Doch nach der Katastrophe des Nationalsozialismus, der die Deutschen politisch, ökonomisch und nicht zuletzt moralisch an den Abgrund geführt hatte, wurde Bismarck plötzlich zum Ausgangspunkt eines deutschen Sonder- und Irrwegs erklärt. Dabei begingen auch Historiker immer wieder den Fehler, die Geschichte vor und nach 1871 von ihrem vermeintlichen Ende im Jahre 1945 aus zu beschreiben. Bismarck wurde nicht als Kind seiner Zeit betrachtet und bewertet, sondern als Auslöser der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, das er selbst doch gar nicht erlebt hatte. Ganz falsch ist es freilich nicht, wenn jede Zeit „ihren Bismarck“ sucht.

Nur sollte man dabei nicht über eine längst vergangene Epoche richten, sondern – wie stets beim Blick in die Geschichte – lieber danach fragen, ob die Gegenwart aus den Erfahrungen vergangener Generationen lernen kann, um künftige Fehler zu vermeiden. So ähnelt die Rolle des wiedervereinigten Deutschlands im Jahre 2015 durchaus der des Kaiserreichs nach 1871. Die Welt insgesamt erlebt derzeit einen ähnlich dramatischen technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel wie vor rund 150 Jahren. Insofern ist uns heute die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts paradoxerweise näher als den Zeitgenossen des Jahres 1945. In diesem Sinne blicken die Beiträge ab Seite 34 auf eine erstaunlich aktuelle Zeit.