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Starrummel oder Mannschaftssport?

Für die Probleme der Räumlichen Gestaltung in einer überfüllten Welt öffnet die Allmende-Idee eine unkonventionelle Perspektive

Georg Franck02.04.2012

Fährt man über Land, verstärkt sich der Eindruck, ein wütender Riese hätte seine Spielzeugkiste ausgeschüttet: Zersiedlung, wohin man schaut. Dieser Eindruck – das Verschwinden der Landschaft und der historischen Stadtbilder in der Entropie der wuchernden Agglomeration – ist der Grund für das allgemeine Unbehagen an unserer Baukultur. Seltsamerweise dreht sich aber der Diskurs in der Architekturszene nicht vorrangig um dieses Problem. Vielmehr stehen solistische Events im Vordergrund. Der gemeinsame Nenner der Tendenzen, die das Bild der Gegenwartsarchitektur bestimmen, ist die Funktionalisierung der Architektur als ein Medium, das Unterhaltung bietet, um Aufmerksamkeit einzunehmen. In der einschlägigen Publizistik sind es die Architekturen der starken Formen und die Stars der Szene, die den Ton angeben.

Mediale Präsenz versus städtebauliche Pflicht
Im November 2011 beklagte Vittorio M. Lampugnani in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel „Gesten ohne Sinngehalt“, wie die Architektur sich mit Starallüren für den Kampf in und mit den Medien um die Aufmerksamkeit rüstet. Aus dem Blick geraten sieht er die städtebaulichen Pflichten der Architektur. Architektur besteht ja nicht nur im Umhüllen von Innenräumen, sondern auch im Definieren von Außenräumen. Dabei ist sie nicht auf sich selbst, sondern auf andere Architektur bezogen. Einst verstand es sich von selbst, dass letztere Aufgabe den Vorrang hat, wo die Architektur sich in der Gesellschaft anderer Architekturen befindet. Der Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker Stanislaus von Moos verwahrte sich in seiner Replik „Schmierfinken der Architektur“ (ebenfalls in der NZZ) gegen die Verunglimpfung der Spektakelarchitektur im Namen traditionell verstandener Baukultur. Es habe keinen Sinn, der Stadt, wie sie einmal war, nachzutrauern. Die Auflösung ihrer einst wohldefinierten Gestalt in die entropische Agglomeration könne nur noch als fait accomplit zur Kenntnis genommen werden.

Die Architektur verdankt ihren Rang unter den Künsten keineswegs nur solistischer Meisterschaft, sondern auch – wenn nicht gerade – der Fähigkeit, im Ensemble städtebauliche Glanzleistungen zu erspielen. Lampugnani beklagt die Selbstbezogenheit der Stararchitektur und ihr demonstrativer Unwille, sich auf eine Zusammenarbeit in der Gestaltung stimmiger Wände von Stadträumen einzulassen. Tatsächlich hat die Moderne mit der Auffassung des Städtebaus als der Bildung klar definierter Straßen- und Platzräume Schluss gemacht, um sich dem Ersatz der kompakten Stadt durch die lockere Siedlung zu verschreiben. Lampugnani denkt die Architektur aber nicht als freie, sondern lebensdienliche Kunst. Insbesondere hält er den Ersatz der kompakten Stadt durch die lockere Siedlung für eine schlechte Idee. Sie nämlich führte zum Verschwinden der Landschaft in der Agglomeration.

Dass die Architektur im Show- und Unterhaltungsgeschäft angekommen ist, liegt an einem Wandel der medialen Öffentlichkeit. Seit langem gehört zum Beruf des Architekten, dass er zweierlei Märkte bedient: einen, auf dem Dienstleistung gegen Honorar, und einen anderen, auf dem Information gegen Aufmerksamkeit gehandelt werden. Um erfolgreich zu sein, müssen Architekten auf beiden Märkten reüssieren. Sie müssen Bauherren finden, die die Baukunst finanzieren, und sie müssen Resonanz in der Fachöffentlichkeit finden. Diese Resonanz war einmal sekundär gewesen, inzwischen ist sie weit in den Vordergrund gerückt; nicht zuletzt auch, weil Bauherren die Architektur als ein Medium entdeckt haben, das ihnen preiswerte Attraktionsdienste leistet. Vom Potential dieser Dienstleistung rührt die Nachfrage nach ikonischer Architektur. Für die Architekten ist dies ein verlockendes Angebot, denn sie verdienen an der Attraktion, die der Bau für den Auftraggeber leistet, voll mit. Man muss kein Narziss sein, um dieses Angebot unwiderstehlich zu finden.

Verloren geht dabei jedoch das Gefühl für die städtebauliche Wüste, zu der man durch autistische Solitäre beiträgt. Hinzu kommt, dass Theorie und universitäre Lehre der Architektur versäumen, den immer noch wachsenden Siedlungsbrei und dessen immer noch zunehmende Entropie als die eigentliche Herausforderung für den gestalterischen Ehrgeiz zu identifizieren.

Man sage nicht, es sei unmöglich, unter den Bedingungen der Bauspekulation und bauindustriellen Massenproduktion eine städtebaulich beachtliche Gemeinschaftsleistung zu erspielen. Denn bereits im 19. Jahrhundert hatte die Industrialisierung ein beispielloses Wachstum des umbauten Raums und eine durchkommerzialisierte Immobilienwirtschaft beschert. Sinnbild jenes ersten Wachstumsschubs wurde die Mietskaserne, deren behaustes Elend die moderne Kritik an der kompakten Stadt auf den Plan rief. Im zeitlichen Abstand und nach dem Abbau der Überbelegung änderte sich aber das Bild vom industriellen Spekulationsbau des 19. Jahrhunderts. Die Stadterweiterungsgebiete von damals zählen heute zu den beliebtesten und am besten funktionierenden Wohngebieten. Im Rückblick stellt sich heraus, dass die erste Welle industrieller Massenproduktion auf einem bemerkenswerten städtebaulichen Niveau bewältigt wurde.

Städtebau als „Peer-to-peer“-Architektur
An die Wiederbelebung von Konventionen ist nicht zu denken. Gar nicht sinnlos ist es aber zu fragen, ob die Kunst des Städtebaus nur möglich ist auf der Basis gewachsener Konvention. Könnte man den Städtebau nicht auch als gemeinschaftliche Produktion guter Adressen durch die Anlieger von Stadträumen beschreiben? Produktionsgemeinschaften dieser Art heißen Allmenden und arbeiten im Rahmen eines Regelwerks, das zwar auch konventionell im Brauchtum verankert ist, ebenso aber neu verhandelt und ausdrücklich vereinbart sein kann.

Die Allmende wurde von der modernen Homo-oeconomicus-Ökonomie als hoffnungslos ineffizient abgeschrieben – bis Elinor Ostrom zeigen konnte, dass es Allmenden gibt, die seit Jahrhunderten florieren, weil sie Potentiale bergen, wie sie weder Besitzindividualismus noch zentrale Planung bieten: Als Allmende funktioniert zum Beispiel auch die „free software production“.
Auch das Gut „gute Adresse“ entsteht nicht so viel anders als freie Software. Die Anlieger sind „peers“, das heißt gleichberechtigte Partner, die im freiwilligen Modus zusammenarbeiten. Die Architekten, die an der Produktion beteiligt sind, betreiben das Entwerfen nicht als Solisten, sondern wie einen Mannschaftssport. Durch gutes Zuspiel werden die Harmonien und Resonanzen erspielt, die den Klang der guten Nachbarschaft erzeugen.

Peer-to-peer-Produktion bedeutet, dass die Zusammenarbeit zur Lösung eines komplexen Problems nicht durch zentrale Zerlegung in Teilprobleme erfolgt, deren Lösung dann delegiert wird, sondern dadurch, dass Lösungsvorschläge in der Gruppe herumgereicht und zur Weiterentwicklung angeboten werden. Zu peer-to-peer (p2p) gehört der „Open source“-Gedanke, denn es gibt keine exklusiven Besitzrechte an den Arbeitsständen innerhalb der Gruppe. Es gibt nur das gemeinsame Interesse an der Lösung eines Problems, das jeden Einzelnen überfordern würde. Im Sinne dieses Interesses werden Angebote von Teillösungen aufgenommen und in Richtung einer Synthese fortentwickelt. So kommt es zur parallelen Entwicklung von Alternativen, die einerseits in einem Verhältnis der Konkurrenz stehen, andererseits uneingeschränkt kooperieren, da der Code aller eingebrachten Entwicklungslinien stets der gesamten Community zur freien Verfügung steht.

Natürlich wurde die Freie Software erst einmal belächelt in der Industrie. Nur staunte die Fachwelt dann nicht schlecht, als die Szene mit Produkten herauskam wie Gnu oder Linux, die nicht nur technisch anspruchsvoller, sondern auch zuverlässiger gewartet waren als die aus Bill Gates’ Fabrik. Und sie staunte noch einmal, als die Szene mit Wikipedia eine Enzyklopädie auf die Beine stellte, die sogar die bis dahin führende – und sündhaft teure – Encyclopaedia Britannica überflügelte.

Das Projekt: die urbane Allmende
P2p wartet darauf, aus der Architektur einen Teamsport zu machen. Architekten können genau so zusammenarbeiten wie Entwickler von Software. Die Übertragung scheitert bisher nur daran, dass der Sport Regeln braucht. Und zwar Regeln nicht nur, um das Spiel organisieren, sondern auch, um seitens der Bauherrn und der Behörde anerkannt zu werden. Der Grund, warum nicht längst schon urbane Allmenden für den Anbau guter Adressen gegründet wurden, ist der, dass der Entwurf des Regelwerks die Gruppen, die das kooperative Spiel „Städtebau“ gerne spielen würden, überfordert. Das Design ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die die Expertise nicht nur von Architekten und Stadtplanern, sondern auch von Juristen und Ökonomen fordert. Allerdings braucht das Design nicht bei null zu beginnen, sondern kann sich auf die Vorarbeit Elinor Ostroms stützen. Die hat aus der Analyse existierender und neu gegründeter Allmenden Entwurfsprinzipien destilliert, die darauf warten, in die Verfassung einer urbanen Allmende übersetzt zu werden, deren Zweck es ist, die gemeinschaftliche Gestaltung von Außenräumen wieder ins Zentrum der Architektur zu rücken. 

Georg Franck
Professor Dr. Ing. Georg Franck ist Architekt, Stadtplaner und Software-Entwickler. Seit 1994 ist er Professor für EDV-gestützte Methoden in Architektur und Raumplanung an der TU Wien. Zuletzt erschien „Architektonische Qualität“ (Hanser 2008).
       www.iemar.tuwien.ac.at