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Steigende Lebenserwartung

Von Siebzig auf Hundert

Die Deutschen leben immer länger – die Folgen für den Einzelnen und für die Gesellschaft

Horst Opaschowski01.09.2016

Eine Altersrevolution kommt auf Deutschland zu. Unter allen westlichen Industriegesellschaften weist Deutschland neben Japan die stärkste Alterung auf. Ein drastischer Geburten­rückgang in den letzten Jahrzehnten und eine weiter steigende Lebenserwartung bewirken geradezu eine Überalterung der Gesellschaft, eine Überalterung, die in Zukunft allenfalls durch Einwanderung gemildert werden kann. Es zeichnen sich zwei Entwicklungen für die Zukunft ab: Deutschland wird Einwanderungsland, und Deutschland wird grau. Solange zu wenige Kinder geboren werden und gleichzeitig die Lebenserwartung stetig zunimmt, altert die Gesellschaft als Ganzes.

In Zukunft wird Hochaltrigkeit immer wahrscheinlicher. Die 2016 Geborenen werden im Durchschnitt über 90 Jahre alt. Die UNO prognostiziert für Deutschland bis Ende dieses Jahrhunderts für die Männer in Deutschland eine Lebenserwartung von 90,4 Jahren (zum Vergleich: 2016 lag sie bei 79,3 Jahren) und für die Frauen von 93,6 Jahren (2016: 83,8 Jahre). Der demografische Wandel gleicht einer Revolution auf leisen Sohlen:

  • Die Lebenserwartung der Deutschen nimmt jedes Jahr um zwei bis drei Monate zu (zurzeit um 2,76 Monate pro Jahr).
  • Alle zwei Wochen verlängert sich das Leben in Deutschland um ein langes Wochenende.

Den jahren mehr leben geben
Die Karten des Lebens müssen neu gemischt werden. Denn noch nie haben so viele Menschen in Deutschland ein so hohes Alter erreicht. Und ein noch längeres Leben wartet auf die nächste Generation. Müssen wir unsere Kinder darauf vorbereiten, dass sie sehr alt werden und nicht aufhören dürfen, lebenslanges Lernen ernst zu nehmen und sich bis ins hohe Alter persönlich weiterzuentwickeln? Wie können sie den Jahren mehr Leben und nicht nur dem Leben mehr Jahre geben? Und wie könnte eine Agenda zur Vorbereitung auf eine Gesellschaft des langen Lebens aussehen?

Die Deutschen wissen die immer höhere Lebenserwartung sehr zu schätzen, knüpfen ihre Erwartungen allerdings an Qualitätsbedingungen des Lebens. 81 Prozent der Bevölkerung nennen „geistig fit sein“ als wichtigste Voraussetzung für ein langes Leben. Die geistige Fitness im hohen Alter wird bedeutsamer eingeschätzt als etwa die körperliche Beweglichkeit (76 Prozent) oder die finanzielle Absicherung (75 Prozent). Dabei sorgen sich die Männer deutlich mehr um die Erhaltung ihrer geistigen Fitness (84 Prozent) als die Frauen (77 Prozent). Bei beiden dominiert die Angst, im Alter nicht mehr selbstbestimmt leben zu können oder gar zum Pflegefall zu werden. Dies geht aus einer aktuellen Repräsentativ­umfrage des Hamburger Opaschowski Instituts für Zukunftsforschung (O.I.Z) hervor, in der 1000 Personen ab 14 Jahren in Deutschland danach gefragt wurden, welche Bedingungen für sie persönlich erfüllt sein müssen, damit es sich auch lohnt, so lange zu leben.

Auf dem Weg in eine langlebige Gesellschaft ändern sich die Prioritäten des Lebens. An Jahren älter werden, im Kopf jung bleiben – dies entspricht am ehesten den Wünschen der Bevölkerung. Drei Viertel der Deutschen wollen zudem nicht nur gesund, sondern auch finanziell abgesichert sein. Über die finanzielle Absicherung machen sich vor allem die Selbstständigen und Freien Berufe, die keiner Sozialversicherungspflicht unterliegen, große Sorgen. Aber von ihnen wie auch von der übrigen Bevölkerung wird Vorsorge nicht mehr nur als Geldthema verstanden. Beim Gedanken an ein langes Leben rückt das persönliche und soziale Wohlergehen in den Vordergrund. Es geht um ein ganzheitliches Lebenskonzept von Geist, Geld, Gesundheit und  Geborgenheit. Wer gut und lange leben will, muss seinen Lebensstil ändern und sollte nicht nur die Bank, den Arzt oder Apotheker fragen.

familie als wohlstandsfaktor
Jeder zweite Bundesbürger (52 Prozent; bei Selbstständigen 63 Prozent) setzt vor dem Hintergrund ständig steigender Lebenserwartung auf den Zusammenhalt der eigenen Familie. Wer intensive Kontakte zur Familie pflegt, fühlt sich wohlhabender als der, der nur über Eigentum verfügt. Wenn Arbeit, Einkommen und Renten­niveau nicht mehr sicher sind, erweist sich die Familie als wertbeständiger Wohlstandsfaktor. Sie schützt vor vielen Armutsrisiken des Lebens und kann so wertvoll wie eine Geldanlage sein.

Vom Glück, im Alter noch gebraucht zu werden: Vier von zehn Bundesbürgern (42 Prozent) legen großen Wert darauf, ein Leben lang (und nicht nur während der Berufstätigkeit) gebraucht zu werden. Männer betonen dies etwas mehr als Frauen und Arbeiter mehr als Angestellte. Für die 65plus-Generation ist das Gefragt-und-Gefordert-Sein eine unverzichtbare Energiequelle ihres Lebens. Selbst über 80-Jährige wissen es zu schätzen, persönlich um Rat gefragt und an wichtigen familiären Entscheidungen beteiligt zu sein. Das Gebrauchtwerden vermittelt das Gefühl, nicht allein dazustehen und bei noch so kleinen Gefälligkeiten anderen helfen und aushelfen zu können. Es wirkt stabilisierend und hält die Lust am Leben wach. Die Aussage „Es tut gut, gebraucht zu werden“ ist auch eine Antwort auf die Sinnfrage des Lebens.

drei prozent restrisiko
Das Leben im Alter wird immer lebenswerter. Nur knapp fünf Prozent der 17 Millionen Rentner wohnen in Alters- und Pflegeheimen. Trotz ständig steigender Lebenserwartung nimmt die pflegefreie Lebenszeit weiter zu – und nicht etwa ab. Zwischen 1999 und 2009 nahm beispielsweise die Lebensdauer ohne Pflege von 75,79 auf 77,65 Jahre zu. Nachweislich verbringen die Deutschen 97 Prozent ihrer Lebenszeit ohne Pflegebedarf. Dieser 97-Prozent-Anteil ändert sich nicht, auch wenn das Lebensalter weiter ansteigt. Was bedeuten schon drei Prozent Restrisiko innerhalb eines langen Lebens von 70 bis 100 Jahren? Das Leben im Alter wird immer lebenswerter. Die Pflegebedürftigkeit wird im öffentlichen Bewuss­t­sein genauso wie in den persönlichen Zukunfts­ängsten überschätzt – und die Qualität der Langlebigkeit unterschätzt.

Rückbesinnung auf das 17. Jahrhundert
Die Grauen Giganten kommen. Damit sind die neuen Centenarians gemeint, die über 100 Jahre alt werden. Die Zahl der 100-Jährigen nimmt fast explosionsartig in Deutschland zu (1975 waren es 716; 1995 schon 2496 und 2015 genau 5523). Langlebigkeit wird ein Teil der Normalität. Um 2030 scheiden die Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus: 30 Jahre später wird man in Deutschland eine ganze Kleinstadt mit 100-Jährigen füllen können. Nach der 100-Jährgen-Studie der Universität Heidelberg lebt jeder zweite 100-Jährige im eigenen Haushalt, weist im Zeitvergleich der letzten Jahre höhere geistige Fähigkeiten auf und regelt auch seine Finanzangelegenheiten selbst. Veränderte Lebens- und Ernährungsgewohnheiten, gesündere Umweltbedingungen sowie Fortschritte der Medizin sorgen für eine weiter zunehmende Langlebigkeit in den nächsten Jahren. Wir können länger beschwerdefrei leben und werden uns nicht weiter von Medizin und Medien „krankschreiben“ lassen.

Ausblick: Deutschland altert, aber geht nicht am Stock. Die Generation 65plus isst und ist gesünder als je zuvor. Der demografische Wandel führt zu einer grundlegenden Bedeutungs­aufwertung der Generationenbeziehungen zwischen Enkeln, Kindern, Eltern und Groß­eltern. Es deutet sich eine Rückbesinnung auf frühere Generationenbeziehungen des 17. bis 19. Jahrhunderts an, die auf emotionalen Bindungen beruhten. Auch die heutigen Generationenbeziehungen weisen wieder mehr Stabilität auf und verlassen sich nicht nur auf die staatliche Fürsorge. Generationenbeziehungen werden wichtiger als Partner­beziehungen und halten oft ein Leben lang – mit einem besonderen Nebeneffekt: Ältere Menschen, die sich um Kinder und Enkelkinder kümmern, verlängern ihre Lebenszeit.

Eine neue Solidarität und Freundschaft zwischen den Generationen lässt die Unverbindlichkeit des Lebens in den Wohlstandszeiten des 20. Jahrhunderts vergessen. In den unsicheren Zeiten des 21. Jahrhunderts sehnen sich die Menschen wieder nach Verlässlichkeit und sozialer Geborgenheit. Die Pflege der Generationenbeziehungen wird zur bedeutendsten Quelle von Solidarleistungen. Das Dach über den Generationen ist nicht zerstört. Die Generationen finden wieder zueinander. Aus dem Zusammenhalt der Familienangehörigen wird gelebte Solidarität: Wir helfen euch, damit auch ihr uns helfen könnt! In einer Gesellschaft des langen Lebens ist Lebensqualität im Alter nicht das, was uns geboten wird, sondern das, was wir daraus machen. Nur so kann aus einem langen Leben auch ein gutes Leben werden.

Wer für sein Alter wert- und nachhaltig vorsorgen will, muss im Laufe seines Lebens drei Vorsorgeleistungen einlösen: Erstens die Gesundheit durch geistige und körperliche Fitness erhalten, zweitens den Lebensstandard durch Eigentum, Vermögen und Versicherungen finanziell absichern und drittens die Lebensqualität durch Zeitwohlstand und Beziehungsreichtum verbessern und durch Neugier und lebenslanges Lernen erhalten. Dann „lohnt“ es sich, nicht nur lange, sondern auch gut zu leben.


Länger leben, besser leben
In seinem Beitrag stützt sich Horst W. Opaschowski auf die Studie „Das Abraham  Prinzip“, die in diesem Monat als Buch erscheint. Mitautorin ist Irina Pilawa, seine Tochter, mit der er 2014 das Opaschowski Institut für Zukunftsfragen gegründet hat.

Gütersloher Verlagshaus, 2016, 190 Seiten, 17,99 Euro (D); 18,50 Euro (A)


 

Horst Opaschowski
Horst Opaschowski (RC Hamburg-Bergedorf) ist Zukunftswissenschaftler und leitete bis 2010 die BAT Stiftung für Zukunftsfragen und gründete 2014 mit seiner Tochter Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung in Hamburg. Beide veröffentlichten 2014 das im Gütersloher Verlagshaus erschienene Buch „So wollen wir leben! Die 10 Zukunftshoffnungen der Deutschen“.

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