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Ideen und Mittel gegen den Niedergang

Was Gemeinden stark macht

Wilfried Härle03.06.2011

Das gibt es auch heute und nicht einmal selten: Kirchengemeinden, die eine starke Anziehungskraft haben und wachsen. Da kann es einem passieren, dass man auf die Frage, wann am Sonntag der Erntedankgottesdienst beginnt, die Antwort erhält: „Um 10 Uhr, aber wenn Sie einen Sitzplatz wollen, sollten Sie 20 Minuten vorher kommen“. Und das ist kein Scherz. Fragt man, wie solches Wachstum zustande kommt, dann werden drei Initialzündungen häufiger genannt: Oft ist es die Neubesetzung einer Pfarrstelle, die zum Auslöser für Wachstum wird. Neue Stelleninhaber kommen oft mit neuem Schwung und neuen Ideen und schaffen es immer wieder, die Gemeinde zu begeistern und mitzureißen. Nicht selten sind Neuwahlen des Kirchenvorstands der Anlass dafür, dass die Gemeindearbeit neuen Elan bekommt. Das ist vor allem dort der Fall, wo eine neue, meist jüngere Gruppe es bei den Wahlen zum Kirchenvorstand schafft, sich gegen die bisherigen Mitglieder durchzusetzen. Wenn der Wachstumsprozess durch eine solche „Kampfwahl“ ausgelöst wird, ist er freilich häufig von Konflikten begleitet, löst Verletzungen aus und kann daran auch scheitern. Ein solcher „Machtwechsel“ erfordert deshalb aufmerksame seelsorgliche Begleitung, wenn er für die Gemeinde zum Guten ausschlagen soll. Fast kurios wirkt die dritte Möglichkeit, wie solche Wachstumsprozesse gelegentlich angestoßen werden: durch Auflösungsbeschlüsse der Kirchenleitung, die der Auffassung ist, dass einer Gemeinde die Möglichkeiten fehlen, eigenständig weiterzuexistieren. Wird dies der Gemeinde mitgeteilt, dann löst das gelegentlich ein „Protestwachstum“ aus, und das kann sogar von Dauer sein.

Positive Wechselwirkung

Bei solchen Aufbrüchen sind meistens zwei Impulse wirksam, die zwar in unterschiedliche Richtungen weisen, aber sich gegenseitig ergänzen. Der eine Impuls richtet sich nach außen und verfolgt das Ziel, mehr Menschen zu erreichen, um ihnen den christlichen Glauben nahezubringen und sie für die Gemeinde zu gewinnen. Der andere Impuls richtet sich nach innen und verfolgt das Ziel, ein lebendigeres, reicheres Gemeindeleben zu entfachen. Dahinter steckt meist der Wunsch, innerhalb der Gemeinde mehr als bisher an Gemeinschaft, Vielfalt und Freude erlebbar zu machen. Beide Impulse ergänzen und verbinden sich in der Regel, weil lebendigere Gemeinden auch einladendere Gemeinden sind, und weil neu hinzukommende Menschen auch belebend wirken. Zwischen Außen- und Innenimpuls besteht darum meist eine starke positive Wechselwirkung.

Fragt man, auf welchen Handlungsfeldern Entwicklungen stattfinden, die zu einer Stärkung und Belebung des Gemeindelebens führen, so zeigen sich vor allem folgende fünf Bereiche:

Gottesdienste, die liebevoll vorbereitet und gestaltet werden: Es sind nicht spektakuläre Gottesdienste mit besonderen „Events“, die Menschen anziehen, sondern solche, die sorgfältig – meist durch Kleingruppen zusammen mit Pfarrern – vorbereitet sind und so gestaltet werden, dass sie dem kirchlichen Auftrag entsprechen und Menschen ansprechen. Das betrifft sowohl die Predigten als auch die Liturgie, wobei Altes und Neues oft miteinander verbunden wird. Entscheidend ist, dass schon bei der Vorbereitung und dann auch bei der Feier selbst die Begegnung mit dem Heiligen, dem für uns Unverfügbaren gesucht wird. Nur wenn man in der Kirche einer Botschaft begegnet, die sich von dem unterscheidet, was durch Massenmedien und in der Alltagskommunikation Tag für Tag ohnehin beredet wird, hat die Kirche die Chance, gehört zu werden.

Arbeit mit Kindern, durch die ganze Familien Zugang bekommen: Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft haben nicht mehr die „gute Gewohnheit“ des allsonntäglichen Kirchganges. Wenn aber ein eigenes Kind in einem Gottesdienst in irgendeiner Form mitwirkt, ist das meist nicht nur für die Eltern und Geschwister, sondern auch für Großeltern und Freunde ein guter Grund, wieder einmal die Kirche zu besuchen. Es ist so, als bahnten die Kinder für ihre Familien (wieder) den Weg in die Kirche. Krabbelgruppen, Kindergärten, Kindertagesstätten, Kindergottesdienste und Kinderkirchen sind dabei häufig die Orte, an denen die Kinder selbst in Kontakt mit einer Gemeinde kommen. Das kann dann im Konfirmandenunterricht und im schulischen Religionsunterricht eine Fortsetzung finden.

Kirchenmusik, die als kulturelles Element Brücken schlagen kann: Schon für Kinder sind die musikalischen Angebote durch Kinderchöre, In­strumentalunterricht oder musikalische Früherziehung eine gute und preisgünstige Möglichkeit, im Rahmen einer Kirchengemeinde an die Welt der Musik herangeführt zu werden und so auch einen Zugang zu kulturellen Ausdrucksformen des Glaubens zu gewinnen. Und das findet in den zahllosen Chören und Kantoreien seine Fortsetzung, in denen Jugendliche und Erwachsene mit Liedgut oder den großen Werken der Kirchenmusik vertraut werden, die sie sich als bleibende Schätze aneignen können. Oft münden solche musikalischen Angebote überdies – zumindest gelegentlich – in Gottesdienste ein und dienen zu deren ästhetischer Gestaltung.

Gewinnung von Mitarbeitern mit ihren speziellen Gaben: Ein eher überraschendes Wachstumsfeld war und ist die Gewinnung von Mitarbeitern. Überraschend, weil die Erfahrung, keine Zeit zu haben, geradezu eine Signatur unserer Gesellschaft zu sein scheint. Aber hier wie andernorts kann man erleben, dass Menschen oft leichter zu gewinnen sind, wenn man sie um ihre – zeitlich befristete, also überschaubare – Mitarbeit mit ihren besonderen Gaben und Fähigkeiten bittet, als wenn man sie einlädt, an Veranstaltungen teilzunehmen, in denen ihnen etwas geboten werden soll. Freilich muss die Gewinnung solcher Mitarbeiter verbunden sein mit dem Respekt vor ihren eigenständigen Fähigkeiten und mit der Wertschätzung dessen, was sie in das Leben einer Gemeinde einbringen.

Hauskreise und Glaubenskurse, die Gemeinschaft ermöglichen und Orientierung vermitteln: Der weit überwiegende Teil wachsender Gemeinden hat ein ganzes Netzwerk von Hauskreisen, die der regelmäßigen Begegnung zum Gespräch und dem Austausch über Fragen des Glaubens und Lebens dienen. Es ist freilich wichtig, darauf zu achten, dass die Hauskreise sich nicht als abgeschlossene „Zirkel“ verselbständigen und so den Zusammenhalt in der Gemeinde eher gefährden als fördern. In Ergänzung hierzu werden häufig Glaubenskurse angeboten, die der eigenen Orientierung über den christlichen Glauben dienen. Insbesondere die Geburt von Kindern ist für viele Eltern ein Anlass, mehr über den eigenen christlichen Glauben wissen zu wollen, weil sie ihren Kindern auch in Glaubensfragen etwas für ihr Leben mitgeben wollen, das sie selbst nicht in ausreichendem Maß bekommen haben. Das Umfeld der Taufe ist hierfür ein besonders gut geeigneter Lernort. Aber für dieses wie für jedes andere Feld der Gemeindearbeit gilt: Am Inhalt entscheidet sich, ob eine Gemeinde um sich selbst kreist oder ihrem Auftrag gerecht wird und so einen unverzichtbaren Beitrag für diese Gesellschaft leistet. Das tut sie, wenn sie von Gott redet, der in Jesus Christus als Mensch uns Menschen heilsam nahekommt. Dann ist sie in jedem Fall bei ihrer „Sache“, und dann hängt sie nicht einmal vom äußeren Erfolg und der erzielten Resonanz ab. Dann kann sie sogar mit Paulus sagen: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2 Kor 12,10).

Wilfried Härle
Professor Dr. Wilfried Härle ist emeritierter Professor für Systematische Theologie der Universität Heidelberg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, 2018 erschien „Worauf es ankommt: Ein Katechismus. Mit einem Geleitwort von Christian Schad”. w-haerle.de

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