https://rotary.de/gesellschaft/weckruf-fuer-den-michel-a-11359.html
Editorial

Weckruf für den Michel

Editorial - Weckruf für den Michel
René Nehring, Chefredakteur © Jessine Hein

René Nehring über die politische Stimmung in Deutschland

01.10.2017

Zu den Paradoxien der deutschen Gesellschaft gehört der Umgang mit den auswärtigen Angelegenheiten: Einerseits waren die vergangenen vier Jahre von außenpolitischen Herausforderungen geprägt wie selten zuvor: Der Krieg in Syrien und das Aufkommen des Islamischen Staates, die griechische Staatsschuldenkrise, die den Euro an den Rand des Scheiterns brachte, die Flüchtlingswelle über das Mittelmeer und die Balkanroute, die Annexion der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine, die ungelösten Konflikte in Nahost und Afghanistan oder die Entscheidung der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen, haben klassische Großthemen wie Bildung, Wirtschaft oder die Sicherung der Sozialsysteme durchgehend überlagert.
Andererseits scheint sich die deutsche Öffentlichkeit für diese Entwicklungen kaum ernsthaft zu interessieren. Zwar ist die Erregung in den Talkshows und an den Stammtischen regelmäßig groß, wenn etwa die Südeuropäer wieder einmal Geld benötigen oder wenn ein Regierungschef in der Nachbarschaft sein Land gerade in eine Autokratie umwandelt. Und das Kopfschütteln über den „Brexit“ ist ebenso laut und aufrecht wie das Mitleid mit den Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa qualvoll verenden. Doch eine tiefere Diskussion über die
größeren Zusammenhänge des Geschehens um uns herum, über die Ursachen und Folgen der genannten Probleme findet sich - jenseits eines interessierten Fachpublikums - kaum. Wenn die Konflikte erst einmal aus den Schlagzeilen heraus sind, sind sie schnell wieder vergessen.
Natürlich ist es nur menschlich, wenn die Sorgen und Nöte im persönlichen Umfeld im Vordergrund stehen. Doch sollte sich ein Land, dessen Kanzler und Außenminister seit Jahren überall auf dem Globus als ehrliche Makler gesucht sind, allmählich fragen, wie lange es sich die Weltabgewandtheit noch leisten kann. Der Bürgerkrieg in Syrien begann 2011 und interessierte hierzulande nur wenig. Vier Jahre später standen hunderttausende Flüchtlinge an unseren Grenzen. Auch der islamistische Terrorismus hat gezeigt, wie schnell außenpolitisches Desinteresse zu innenpolitischen Krisen führen kann.
Wie groß der Stellenwert der Außenpolitik in diesem Lande ist, hat nicht zuletzt der diesjährige Bundestagswahlkampf gezeigt. Bis auf die kurzzeitige, und zudem innenpolitisch motivierte Aufregung darüber, ob die Verhandlungen mit der Türkei über den EU-Beitritt abgebrochen werden sollen, wurde überwiegend über innere Angelegenheiten debattiert. Vor diesem Hintergrund erinnert das Titelthema des aktuellen Oktoberheftes zum Auftakt der neuen Legislaturperiode an das große Aufgabenfeld der Außenpolitik - und die auf ihm befindlichen Brachen.

Es grüßt Sie herzlichst Ihr

 

René Nehring
Chefredakteur