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Gespräch mit Christian Lindner

»?Wir pflegen eine skeptische Staatsfreundschaft?«

Über aktuelle Bedrohungen der Freiheit, die Aufgaben des Staates und den Begriff der Bürgerlichkeit

Über aktuelle Bedrohungen der Freiheit, die Aufgaben des Staates und den Begriff der Bürgerlichkeit

03.06.2011

Herr Lindner, Sie haben sich vor kurzem in der FAZ zur Frage „Wozu Liberalismus?“ geäußert. Wenn man sein politisches Leitbild derart hinterfragt, scheint es darum nicht gut bestellt zu sein. Steckt der Liberalismus in der Krise?

Das war natürlich nur eine rhetorische Frage. Sicher steckt die liberale Partei in einer schwierigen Lage. Der Liberalismus selbst ist aber wichtiger denn je. Die Offenheit unserer Gesellschaft – in den Formen der Sozialen Marktwirtschaft und der Freiheit der privaten Lebensführung – wird durch eine Vielzahl von kleinen bürokratischen Angriffen bedroht. Aus besten Motiven wird über Frauenquote, Rauchverbot, Alkoholverkaufsverbot, Einzelfallgesetze im Steuerrecht und vieles mehr diskutiert. Über unser Leben legt sich so ein feines Geflecht bürokratischer Regelungen. Der Zweck heiligt aber nicht alle Mittel. Deshalb müssen Liberale an die Verhältnismäßigkeit erinnern. Im Zweifel für die Freiheit und gegen ein neues Verbot oder Gebot.

 

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat allerdings unlängst in der ZEIT gesagt, die Freien Demokraten hätten ihr ideologisches Eigenkapital verspielt.

Ein Bonmot, über das ich schmunzeln konnte. Der politische Liberalismus in der Kombination aus marktwirtschaftlicher Orientierung, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftspolitischer Liberalität ist nach wie vor für viele Menschen attraktiv. Die Werte derjenigen, die uns bei der Bundestagswahl 2009 unterstützt haben, sind unverändert. Das sind nach wie vor leistungsbereite, verantwortungsbewusste Menschen, die fair sind, aber nicht gleichmacherisch; die nicht staatsgläubig sind, sondern auf die Bürgersouveränität vertrauen. Sie haben nur zu wenig davon im Regierungshandeln gesehen. Damit sich das ändert, hat die FDP sich neu aufgestellt.

 

Den Grünen ist es gelungen, sich von einem Thema – der Ökologie – inhaltlich breiter aufzustellen. Bei den Liberalen hingegen sieht die Wahrnehmung oft so aus, dass ihnen nach dem Sieg der Freiheit über die Diktatur am Ende des 20. Jahrhunderts das große Thema abhandengekommen ist.

Die Systemkonfrontation ist gewiss überwunden, aber die Bedrohungen für die Freiheit sind immer noch da. Sie kommen nicht mehr als großer Anschlag, sondern als kleine Erosionen der Privatheit. Zum Beispiel wird gerade die wirtschaftliche Freiheit eingeschränkt, wenn Herr Kretschmann in Baden-Württemberg der Automobilindustrie die Drosselung der Produktion empfiehlt …

 

… aber da ist der Aufschrei der FDP doch ausgeblieben.

Vielleicht haben Sie ihn überhört. Gefährlich ist, dass hinter den Aussagen von Herrn Kretschmann ein Konzept steht. Sozialdemokraten und Grüne sprechen ja nicht mehr von sozialer, sondern von demokratischer Marktwirtschaft. Die Richtung des Wachstums soll politisch legitimiert werden. Das heißt, dass nicht mehr wir alle als Kunden, Unternehmer oder Wissenschaftler in Millionen Einzelentscheidungen über die Richtungen der Gesellschaft entscheiden sollen, sondern Politiker und Beamte. Das ist das Gegenteil von dem, was wir bisher hatten – und eine Bedrohung der Freiheit. Andererseits greifen private Unternehmen auf unsere Daten zu, legen Nutzer- und Kundenprofile im Internet an. Bei Apple und bei Sony haben wir gesehen, was mit diesen Daten passieren kann. Das ist eine Bedrohung der Privatheit aus dem Markt heraus. Uns gehen also die Themen ganz gewiss nicht aus.

Übrigens sehe ich es nicht so, dass die Grünen es vermocht hätten, sich thematisch zu verbreitern: Die Grünen haben doch nur ein Thema, das ist die Frage der Energiepolitik. Sie liefern aber keine Antworten. Wie werden die Voraussetzungen für die Energiewende geschaffen, durch Netzausbau, Stromspeicher und anderes mehr? Da bleiben die Grünen blass. In Baden-Württemberg haben sie alle großen Gestaltungsressorts der SPD überlassen, die Wohlfühl-Ministerien bleiben bei den Grünen. Das unterscheidet uns von denen. Wir suchen Verantwortung auch auf schwierigen Feldern wie Gesundheit, Justiz und Wirtschaft.

 

Gerade über das Wohlgefühl haben es die Grünen geschafft, ein anfänglich „alternatives“ Lebensbild in der Mitte der Gesellschaft zu verankern.

Die Grünen sind eine Projektionsfläche. Darin sieht im Moment jeder das, was er sehen will. Ich möchte nicht, dass die Freien Demokraten so werden. Die FDP muss eine nüchterne Partei sein, die sich auf Vernunft orientiert. Die Grünen haben sich einen Anschein von Maß und Mitte gegeben. Das Programm der Grünen ist aber alles andere als Maß und Mitte. Staatliche Lösungen, Umverteilungsprogramm, Eingriffe in Privatsphäre und auf Privateigentum – das ist klassische linke Politik.

 

Zum Lebensgefühl unserer Zeit gehört das Internet. Da ist mit den „Piraten“ eine Partei entstanden, die ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit wirbt. Allerdings kommt sie zu ganz anderen Aussagen als die FDP.

Liberale schützen die private Sphäre vor dem Staat oder auch vor dominanten Unternehmen, die Daten sammeln. Der Unterschied zu den „Piraten“ ist, dass für uns Freiheit im Netz nicht unbeschränkt ist. Zum Beispiel darf man nicht einfach über das geistige Eigentum anderer verfügen. Nicht nur das Häuschen im Grünen ist Eigentum, auch die Ergebnisse der geistigen Schaffenskraft sind Eigentum – und diese müssen geschützt werden.

 

Zum Schutze des geistigen Eigentums braucht man den Staat. In den letzten Jahren hatte man bei manchen Liberalen allerdings den Eindruck, dass der Staat der größte Feind der Freiheit sei. Welche Rolle kommt dem Staat im Liberalismus zu?

Wir pflegen eine skeptische Staatsfreundschaft. In Deutschland sprechen wir gern von „Vater Staat“. Da ist viel Hegel drin: der Staat als „Verwirklichung des objektiven Geistes“. Im angelsächsischen Raum spricht man dagegen von „Uncle Sam“, ein Familienangehöriger ohne besondere Rechte, den man dazu bittet, wenn man ihn braucht. Das ist auch mein Verständnis. Wir brauchen den Staat zur Regelsetzung. Wir brauchen ihn ganz gewiss als Garanten fairer Bildungschancen, für Infrastruktur und Sicherheit. Aber wir brauchen den Staat nicht überall. Ich bin überzeugt, dass Liberale aufgerufen sind, jede einzelne Staatsaufgabe kritisch zu hinterfragen. Eine Partei braucht man doch als eingebauten Zweifel im System.

 

Eines Ihrer Stichworte in diesem Kontext ist der „aufstiegsorientierte Sozialstaat“. War das nicht einmal ein Gedanke der Sozialdemokratie?

Wir meinen den Begriff im Unterschied zu unserem gegenwärtigen Sozialstaat, den ich als einen bürokratisch verholzten Wohlfahrtsstaat empfinde. Mit Milliardensummen werden Umverteilungsprogramme organisiert, doch tun wir zu wenig, um Menschen aus der Bedürftigkeit zu befreien und sie wieder in die Eigenständigkeit zu geben. In der Diskussion um die Hartz-Gesetze kann man verfolgen, was den Unterschied ausmacht. Die Parteien links der Mitte bis hin in die Union wollten die Zeitarbeit, die eine Flexibilitätsreserve des Arbeitsmarktes ist, strangulieren. 70 Prozent derjenigen, die heute in der Zeitarbeit tätig sind, kommen aber aus der Arbeitslosigkeit, das heißt, das ist eine Leiter in den ersten Arbeitsmarkt. Die anderen wollten diese Möglichkeit kappen und die Höhe der Hartz-IV-Leistungen steigen lassen. Das ist das, was der Historiker Paul Nolte „fürsorgliche Vernachlässigung“ nennt. Fürsorglich durch Sozialleistungen, aber im Grunde Vernachlässigung, weil es keine echte Chance auf Rückkehr ins Miteinander gibt.

 

Die klassische Aufstiegsgrundlage ist die Bildung. Wie sehen die Grundzüge liberaler Bildungspolitik aus?

Ich will zwei wichtige Aspekte nennen. Erstens: Bildung muss früher beginnen, schon vor der Einschulung, deshalb müssen Kinder-Tageseinrichtungen gestärkt und weiterentwickelt werden. Idealerweise werden sie zu Familienzentren, die sich für die neuen Bedürfnisse von Kindern und ihren Eltern öffnen. Zweitens brauchen wir eine neue Verfassungsidee für die Bildung insgesamt. Das sollte das Subsidiaritätsprinzip sein, das bedeutet mehr Verantwortung in die Hände der Verantwortlichen vor Ort. 63 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer wünschen sich mehr Gestaltungsfreiheit und Verantwortung, also nutzen wir doch das Engagement.

Ist das Bildungssystem mit seinen Dutzenden Schultypen nicht eher ein Muster dafür, wie aus Gestaltungsfreiheit Beliebigkeit werden kann?

Der Bildungsföderalismus hat sich im Prinzip bewährt, weil er landsmannschaftliche Besonderheiten achtet und einen Wettbewerb der Ideen schafft. Aber in der Tat brauchen wir bundesweit mehr Vergleichbarkeit bei Bildungszielen und Abschlüssen. Bei deren Umsetzung hat die Kultusministerkonferenz versagt, sie muss reformiert werden.

 

Sie haben das Subsidiaritätsprinzip angesprochen. Dieses taucht zumeist in der Europapolitik auf, wenn es um die Kompetenzen verschiedener Ebenen geht. Wie sieht aus liberaler Sicht eine optimale Aufgabentrennung zwischen Staatenbund, Nationalstaat und Region aus?

Europa war in der Lage, die Glühbirne zu verbieten wegen des Klimawandels; aber bislang ist Europa nicht in der Lage, eine einheitliche Sicherheitsphilosophie für Kernkraftwerke zu beschließen. Da stimmt etwas nicht. Europa ist die große Klammer: der große gemeinsame Wirtschaftsraum, das große kulturelle Erbe und das gemeinsame Auftreten auf der Weltbühne. Aber wir brauchen keine Detailsteuerung aus Brüssel.

 

Zusammen mit der Union bilden die Freien Demokraten traditionell das „bürgerliche Lager“. Jürgen Trittin von den Grünen hat jedoch vor kurzem erklärt, dass es heute nur noch bürgerliche Parteien gäbe. Hat er Recht – oder gibt es eine spezifische liberale Bürgerlichkeit?

Es gibt aus meiner Sicht schon einen Unterschied. In der deutschen Feuilletondebatte wurde lange zwischen dem „Bourgeois“ und dem „Citoyen“ unterschieden. Der eine wurde zum Besitzbürger, den man von links kritisch beäugt hat. Das Ideal war der andere, der demokratisch-republikanische Partizipationsbürger.

Mein Begriff von Bürgerlichkeit verbindet beide. Wenn ich vom Bürger spreche, dann sehe ich Menschen, die für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen, die ihre Privatheit pflegen und Freude an den Ergebnissen ihrer eigenen Leistungsfähigkeit haben. Die brauchen keine Verbote, Gebote und moralische Belehrungen von Politikern. Es sind Menschen, die nicht den beruflichen Erfolg, die private Zufriedenheit und die Einbettung in die Gesellschaft gegeneinander ausspielen. So verstehe ich übrigens auch die rotarische Idee. Hier versammeln sich Persönlichkeiten aus dem Leben, die sich selbst nicht genug sind, sondern aus freier Entscheidung eine freundschaftliche Bindung mit sozialer Verantwortung eingehen. Und zwar jenseits des Staates.