https://rotary.de/kultur/die-heilige-familie-als-urbild-und-kraftquelle-der-christlichen-familie-a-6676.html
Institution Familie

Die Heilige Familie als Urbild und Kraftquelle der christlichen Familie

Weihnachten ist das Fest der Familie – der bürgerlichen, wie der heiligen. Die Beiträge dieses Dezember-Titelthemas beschreiben die Rolle von Jesus, Maria und Joseph als abendländische Modell­gemeinschaft und widmen sich der Bedeutung der Institution Familie in einer Zeit, in der diese nicht mehr selbstverständlich ist.

Kurt Kardinal Koch17.12.2014

Zwischen dem Fest der Geburt Jesu Christi an Weihnachten und dem Fest der Gottesmutter Maria am Neujahrstag wird in der katholischen Kirche das Fest der Heiligen Familie gefeiert. Dieses Fest ist vor allem im 17. Jahrhundert aufgekommen, hat sich im 19. Jahrhundert verstärkt ausgebreitet, ist im Jahr 1921 in den liturgischen Kalender aufgenommen und bei der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf den Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr angesetzt worden. Bereits diese liturgische Verortung im Leben der Kirche bringt eine zentrale Dimension des Weihnachtsgeheimnisses zum Ausdruck, dass Christus, der eingeborene Sohn Gottes, nicht einfach in einem abstrakten Sinn Mensch geworden ist, sondern ganz konkret als Kind in einer menschlichen Familie. Diese Dimension wird in der Weihnachtsgeschichte des Lukas dadurch hervorgehoben, dass die ersten Zeugen der Geburt Jesu, nämlich die Hirten, in der Grotte von Bethlehem nicht nur das Jesuskind vorgefunden haben, sondern das soeben geborene Kind zusammen mit Mutter und Vater: „So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag“ (Lk 2, 16). Paulus hat dieselbe Dimension in einer nicht zu überbietenden Kürze ausgedrückt: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4, 4). Der Gottessohn wollte so konkret Mensch werden, dass er in einer menschlichen Familie geboren werden und aufwachsen wollte. Indem in ihm Gott selbst in eine menschliche Familie hinein geboren wurde, wollte er sich selbst den Menschen offenbaren, so dass die Zugehörigkeit Jesu Christi zu einer menschlichen Familie zur Konkretheit der Menschwerdung Gottes bleibend gehört. Dadurch, dass der Gottessohn in eine menschliche Familie hinein geboren worden ist, ist die Heilige Familie zum Urbild der menschlichen Familie und diese zur Ikone Gottes selbst, vor allem des Geheimnisses des dreifaltigen Gottes geworden. Von daher legt es sich nahe, nach der Bedeutung der Heiligen Familie für das Leben der christlichen Familie heute und nach ihrer Botschaft für die Familie überhaupt zu fragen.

Die Frage nach der Familie als Frage nach dem Menschen

Als Papst Benedikt XV. im Jahre 1921 das Fest der Heiligen Familie in den liturgischen Kalender der Kirche aufgenommen hat, wollte er in der damaligen Krise der Familie den katholischen Familien in der Gestalt der Heiligen Familie ein, wie es im Tagesgebet dieses Festes heißt, „leuchtendes Vorbild“ vor Augen führen. Diese Sinnbestimmung des Festes hat in der heutigen Situation, in der die Krise der Familie noch radikaler und zugleich manifester geworden ist, nichts an Aktualität eingebüßt. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil hat in seiner Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et spes“, in der die damals aktuellen und bedrängenden Probleme des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft behandelt worden sind, seine Aufmerksamkeit an erster Stelle der „Förderung der Würde der Ehe und der Familie“ gewidmet. In dieser Tatsache darf man „eine prophetische Eingebung angesichts der großen Schwierigkeiten“ wahrnehmen, „die in letzter Zeit die Institution Familie bedrängt haben“. Diese prioritäre Herausforderung, die zum bleibenden Vermächtnis des Zweiten Vatikanischen Konzils gehört, hat in der Zwischenzeit eine weitere dramatische Zuspitzung erfahren, insofern die Institution der Familie heute vielfältigen Infragestellungen ausgesetzt ist, die von ihrer Geringschätzung im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft über die Missachtung ihrer Identität und ihrer Rechte bis hin zur bewussten und rechtlich legitimierten Identifizierung anderer Formen des menschlichen Zusammenlebens mit der Familie im menschheitlichen und christlichen Sinn reichen.

Da im christlichen Verständnis die Institution der Familie auf der Institution der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gründet, die für das ganze Leben geschlossen wird und sich durch Treue und Unauflöslichkeit auszeichnet, muss der heutigen Krise von Ehe und Familie auf den Grund gegangen werden. Das tiefste Problem wird man zweifellos in der zunehmenden und weitgehenden Unfähigkeit der Menschen, verbindliche und endgültige Entscheidungen zu fällen, erblicken müssen, die mit der modernen Mentalitätslage unmittelbar zusammenhängt. Bereits die Geschichtswissenschaften zeigen den immerwährenden Wandel alles Menschlichen auf und stoßen die Idee des Bleibenden um. Die Humanwissenschaften, vor allem Psychologie und Soziologie, legen es dem Menschen nahe, vom Endgültigen abzusehen und das menschliche Leben als einen fließenden Strom von sich einander ablösenden Entscheidungen zu sehen. Vollends die Evolutionslehre löst die Stabilität der Welt in sich wiederholende Entwicklungen auf und betrachtet den Menschen bloß noch als eine Etappe in der Geschichte des Werdens.

Kultur des Vorläufigen

In dieser modernen Mentalitätslage, die Papst Franziskus als „Kultur des Vorläufigen“ treffend beim Namen nennt, werden verbindliche Entscheidungen und Treue kaum mehr zu den primären Werten gezählt, da die Menschen immer mehr sowohl beziehungsflüchtig als auch beziehungssüchtig geworden sind. Diese Einstellung ist bereits daran zu erkennen, dass es weithin unüblich geworden ist, von seinem Lebenspartner zu sprechen, dass man vielmehr vom LAP, vom Lebensabschnittspartner, spricht. Damit stellt sich die für die Gesundheit des Menschen und das Wohl der menschlichen Gemeinschaft entscheidende und bewusst zugespitzte Frage, welcher Mensch der menschlichen Bestimmung entspricht: Ist es der Playboy, der von einer flüchtigen Begegnung in eine andere flüchtet und dabei gar keine Zeit hat, einem konkreten und einmaligen Du wirklich zu begegnen? Oder ist es nicht vielmehr derjenige Mensch, der das einmal gesprochene Ja zu einem konkreten Menschen durchträgt, gemeinsam mit ihm vorwärtsgeht, in diesem Ja keiner Erstarrung verfällt, sondern in ihm immer tiefer lernt, sich an das Du freizugeben und dabei selbst frei zu werden?

Verantwortung für die Zukunft

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der heutigen Einstellung zum Kind, weil die Ehe erst durch das Kind zur Familie wird. Da sich im christlichen Verständnis die eheliche Liebe zwischen Frau und Mann nicht auf sich selbst zurückziehen und um sich selbst drehen kann, sondern sie durch die Kinder und auf sie hin überschreitet, gehören die Liebe zwischen Mann und Frau und die Weitergabe des menschlichen Lebens unlösbar zusammen. Mit den Kindern ist den Eltern Verantwortung für die Zukunft anvertraut, so dass die Zukunft der Menschheit in grundlegender Weise über die Familie läuft: „Ohne Familie keine Zukunft, sondern eine Vergreisung der Gesellschaft – eine Gefahr, vor der die westlichen Gesellschaften aktuell stehen.“ Dieser Prozess findet heute deshalb statt, weil die Menschen vor allem in Europa kaum mehr Kinder wollen. Den tiefsten Grund dafür, dass für viele Menschen heute das Wagnis des Kindes kaum mehr als vertretbar erscheint, wird man darin erblicken müssen, dass für sie die Zukunft so unsicher geworden ist, dass sich ihnen die besorgte Frage stellt, wie man denn neues Leben in die als unbekannt empfundene Zukunft hineinsetzen kann. Denn Menschen können menschliches Leben nur in Verantwortung weitergeben, wenn sie nicht nur biologisches Leben, sondern auch und in erster Linie Leben in einem ganzheitlichen Sinn weitergeben können, genauerhin einen Sinn, der auch in den Krisen des Lebens trägt, und eine Hoffnung, die sich als stärker erweist als alles Unbekannte in der Zukunft. Menschen werden deshalb Leben nur weitergeben und einer noch unbekannten Zukunft anvertrauen, wenn sie sich in neuer Weise in das Geheimnis des Lebens vertiefen und dabei erkennen, dass das einzig verlässliche Kapital für die Zukunft der Mensch selbst ist.

Von daher wird einsehbar, dass die Frage nach der Familie in der Tat die Frage nach dem Menschen selbst ist und dass die heutige Infragestellung der Institution der Familie auch ein Angriff auf das christliche Menschenbild darstellt, wie bereits in den achtziger Jahren der damalige Kardinal Joseph Ratzinger mit Recht diagnostiziert hat: „Der Kampf um den Menschen wird heute weitgehend als Kampf für oder gegen die Familie ausgetragen.“ Nicht zuletzt in der Einstellung zur Familie kommt es an den Tag, wie der Mensch sich selbst versteht. Denn die Entscheidung für die Familie enthält die eindeutige Botschaft, dass die eheliche Treue zwischen zwei Menschen und die damit verbundene Hingabe in Liebe und Weitergabe des Lebens keine Bedrohung oder Verminderung der menschlichen Freiheit, sondern ihre authentische Verwirklichung darstellen. Wenn die höchste Möglichkeit der menschlichen Freiheit in der Fähigkeit zu endgültigen Entscheidungen besteht, dann vermag nur derjenige Mensch wirklich frei zu werden, der auch treu sein kann, und dann kann nur derjenige Mensch wirklich treu sein, der selbst frei ist. Denn die Treue ist der Preis, den die Freiheit kostet; und die Freiheit ist der Preis, den die Treue gewinnt. Diesen Lebensstil einer freien Treue und einer treuen Freiheit darf der Christ in der Heiligen Familie als urbildlich realisiert betrachten; und für diesen Lebensstil ist sie ein „leuchtendes Vorbild“.

 


Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes in dem vor kurzem im Herder-Verlag erschienenen Sammelband „Familie. Auslaufmodell oder Garant unserer Zukunft?“, hrsg. von George Augustin und Rainer Kirchdörfer, 304 Seiten, ISBN 3-451-33560-3, 24,- Euro. www.herder.de

Kurt Koch
Kurt Kardinal Koch war von 1995 bis 2011 Bischof von Basel sowie von 2007 bis 2009 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. Im Jahre 2010 ernannte ihn Benedikt XVI. zum Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen.