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Tichys Denkanstoß

Kein Vertrauen in die Zukunft

01.09.2015

Vertrauensarbeitszeit“ gilt als Errungenschaft des modernen Lebens: Leistung soll bezahlt werden, nicht Da-Sein. Zumindest theoretisch – praktisch erleben wir gerade die Wiederkehr der Stechuhren, diesmal natürlich digital. Anwesenheit wird wieder registriert, nicht Leistung – wie früher einmal: Da heulte die Werkssirene morgens um 7 Uhr zum Arbeitsbeginn, um 13 Uhr zeigte dann ein abermaliger Sirenenton die Mittagspause an, und um 17 Uhr, beim dritten Heulton schlurften die Männer wieder durch das Fabriktor, diesmal in die andere Richtung. Der streng geregelte Acht-Stunden-Tag galt damals als Fortschritt.

Mit der strengen Kontrolle der Mindestlöhne kommt jetzt die Stechuhr wieder. Flexibilität und vielleicht sogar Home-Office – nur noch erschwert möglich. Doch heute heult nicht mehr die Sirene zum Schichtbeginn, sondern das Smartphone brummt, weil ein Problem aufpoppt oder ein Kunde mit Auftrag droht. Häufig ist das nicht während der Kernarbeitszeit. In der globalisierten Welt wissen die anderen gar nicht, was für einen komischen Feiertag die Deutschen gerade haben, und außerdem ist es denen gleichgültig. Abends noch ein paar dienstliche Mails schreiben oder Home-Office – das ist nicht nur elektronische Sklaverei. Es ist der moderne Arbeits- alltag. Dann kann man auch mal zu Hause bleiben, den Betrieb trotzdem aufrechterhalten, wenn die Kinder krank sind.

Wir stehen nicht mehr alle gleichzeitig am Fließband und fahren nicht mehr gemeinsam im Aufzugskorb in den Schacht ein. Arbeit ist unregelmäßig wie der Auftragseingang. Da hilft es wenig, wenn jetzt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit seiner Arbeitsministerin Andrea Nahles jede Öffnung der bislang starren Regelungen ablehnt oder sogar zurückdreht. Es geht nicht um längere Arbeit; es geht um Flexibilität für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Gabriel und Nahles geht es nur um ihre Nähe zu den Gewerkschaften; und die lieben die gute alte Stechuhr und die organisierte Arbeit nach dem Befehl der Werkssirene. Individualisierung ist ihrer Meinung nach der Feind der Arbeitnehmer.

Dabei geht es um Regeln für das digitale Zeitalter, seit wir nicht mehr im Korsett des Acht-Stunden-Tags, getrieben von der Sirene, gelocht an der Stechuhr und getaktet vom Fließband arbeiten, sondern vernetzt und vom Küchentisch aus oder von der Fußballtribüne. Stress hat die alten Verschleißerkrankungen ersetzt; Burn-out statt Bandscheibe.

Interessen der Arbeitnehmer

Ausgleichs- und Ruhezeiten müssen sein, und wahre Erholung ist, wenn das Smartphone tot ist. Immer häufiger klaffen gesetzliche Regelung und betriebliche Notwendigkeit auseinander. Die Regeln der alten, analogen Welt passen nicht in die digitale, und wer die Regeln nicht zeitgemäß anpasst, fällt in die wilde Regellosigkeit. Das ist nicht im Interesse der Gewerkschaften und schon gar nicht im Interesse der Beschäftigten. Auch die Bundesregierung sollte sich mit der modernen Wirklichkeit auseinandersetzen und nicht versuchen, die Regeln des 19. Jahrhunderts in das 21. Jahrhundert zu übertragen.

Vielleicht kann man sich in den Amtstuben der Berliner Bürokratien gar nicht vorstellen, wie draußen gearbeitet wird. Dort heult die Fabriksirene nicht, wenn der Auftrag futsch ist, weil keiner ans Smartphone geht. Ministerialbürokratie ist eben nicht globalisiert.