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Anmerkungen zur Präimplantationsdebatte

Diagnostik zum Zweck der Selektion

Manfred Spieker27.04.2011

Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde in der Reproduktionsmedizin ein Verfahren entwickelt, mit dem im Labor erzeugte Embryonen vor der Übertragung in eine Gebärmutter auf bestimmte genetische Merkmale oder Chromosomenstörungen untersucht werden können. Zweck dieses Verfahrens, der sogenannten Präimplantationsdiagnostik (PID) ist es, Embryonen mit bestimmten Krankheitsdispositionen oder Behinderungen zu erkennen und von einer Übertragung in die Gebärmutter auszuschließen. Eltern, die aufgrund ihrer genetischen Anlagen mit dem Risiko belastet sind, eine Erbkrankheit auf ihr Kind zu übertragen, hoffen, mit diesem Verfahren gesunden Kindern das Leben schenken zu können. Sie unterziehen sich, obwohl sie zeugungsfähig sind, der risikoreichen Prozedur einer künstlichen Befruchtung und verwerfen im Falle eines positiven Befundes bei der PID alle Embryonen, die Träger der getesteten Merkmale sind.

Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 2010 war es herrschende Ansicht in Politik, Medizin und Jurisprudenz, dass das Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13. Dezember 1990 die PID verbietet. Das Gesetz untersagt in § 1 Abs. 1 Nr. 2, „eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt“. Der 5. Strafsenat des BGH entschied dagegen am 6. Juli 2010, dass die PID nicht gegen das ESchG verstoße. Der angeklagte Berliner Frauenarzt Matthias Bloechle, der an drei Paaren mit unterschiedlichen Voraussetzungen eine PID vorgenommen und sich selbst angezeigt hatte, wurde freigesprochen. Sein Handeln sei von dem Willen getragen gewesen, bei seinen Patientinnen „eine Schwangerschaft herbeizuführen“. Aus der PID machte das Gericht ein „unselbstständiges Zwischenziel“. Dass das Endziel der PID bei positivem Befund aber nicht die Schwangerschaft, sondern die Selektion und Tötung des Embryos ist, das zu reflektieren weigerte sich das Gericht. Offenkundig war dem Gericht bei dieser Fiktion aber nicht ganz wohl, denn es bediente sich noch eines zweiten Argumentationsstranges, den es sogar als „ausschlaggebend“ bezeichnete. Es behauptete, auch das ESchG erlaube in § 3 Satz 2 dem Arzt bei einer künstlichen Befruchtung eine Selektion, nämlich die „Auswahl der Samenzelle“, wenn diese Auswahl dazu dient, das Kind vor schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten zu bewahren. Die Auswahl und Verwerfung einer getesteten Samenzelle in der Reproduktionsmedizin ist aber etwas anderes als die Auswahl und Tötung eines Embryos. Eine Samenzelle ist kein Mensch im frühesten Stadium seiner Existenz – ein Embryo jedoch schon.

Kinderlosigkeit ist keine Notlage. Die Frau oder das Paar haben kein Recht auf ein Kind um den Preis einer tödlichen Selektion. Das Recht auf reproduktive Freiheit hat wie das Recht auf Gewissensfreiheit seine Grenze an den Grundrechten dritter. Johannes Rau brachte es in seiner Berliner Rede 2001 auf den Punkt: „Noch so verständliche Wünsche und Sehnsüchte sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder auf liebende Eltern – und vor allem das Recht darauf, um ihrer selbst willen auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden“.

Eine enthüllende Statistik

Zu den vom Gericht nicht hinreichend beachteten Fakten, die die mit der PID verbundene Selektion auf dramatische Weise belegen, gehören die von der Europäischen Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie jährlich publizierten Daten. Die European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) ist keine Lebensschutzorganisation, sondern die Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner. Sie sammelt die Daten der PID-Zentren über die behandelten Zyklen, die Biopsien, die Diagnosen, auch die Fehldiagnosen, die Implantationen, die Schwangerschaften und die geborenen Kinder und veröffentlicht sie in der Zeitschrift Human Reproduction. In den Jahren 2009 und 2010 wurden die Daten von jeweils 57 Zentren ausgewertet. In 5.887 Zyklen wurden 68.568 Eizellen gewonnen, von denen 56.325 einer Insemination zugeführt wurden. Daraus entstanden 40.713 Embryonen. Davon wurden 28.998 einer Diagnose unterzogen und 7.183 in eine Gebärmutter transferiert. Erfolgreich war die Implantation aber nur in rund 22 Prozent der Fälle, das heißt sie führte zu 1.609 Schwangerschaften. Diese wiederum endeten in 977 Geburten mit 1.206 Kindern. Bei 40.713 Embryonen und 1.206 geborenen Kindern bedeutet PID somit: Auf ein Kind kommen 33,7 selektierte und verworfene Embryonen! Die Daten der ESHRE zeigen, dass die Diagnostik nie den Zweck einer üblichen medizinischen Diagnostik hat, nämlich dem diagnostizierten Patienten eine angemessene Therapie zukommen zu lassen, sondern immer den Zweck einer Fahndung nach Embryonen mit bestimmten Krankheitsdispositionen zum Zweck der Selektion und Tötung. Die Legalisierung der PID hat erhebliche Konsequenzen für den Rechtsstaat, seine Verfassung und seine Rechtsordnung. Sie konterkariert nicht nur das Embryonenschutzgesetz. Sie widerspricht den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes: der Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1), dem Lebensrecht (Art. 2 Abs. 2) sowie dem Diskriminierungsverbot Behinderter (Art. 3 Abs. 3). Nicht zuletzt gefährdet sie mit dem Gleichheitsprinzip einen Pfeiler des Demokratieverständnisses. Sie hat gravierende Folgen für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Die Anerkennung einer unantastbaren Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG beinhaltet das Verbot, den Menschen wie eine Sache zu behandeln. Würde ist Anspruch auf Achtung allein aufgrund des Menschseins. Mensch sein heißt Person sein und Person sein heißt, ein „Jemand“ und nicht ein „Etwas“ zu sein. Aus einem „Etwas“ kann nie ein „Jemand“ werden. Das Personsein des Menschen beginnt mit dem Menschsein, also mit der Zeugung. Jeder spätere Beginn des Personseins wäre willkürlich und würde den Embryo der Macht derjenigen ausliefern, die die Zäsur definieren – Nidation, Hirntätigkeit, Empfindungs- oder Kommunikationsfähigkeit, extrauterine Lebensfähigkeit, Geburt oder was auch immer. Nicht das Vorliegen bestimmter Eigenschaften verleiht die Menschenwürde, sondern allein das Menschsein, das heißt die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Das Bundesverfassungsgericht stellte deshalb in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht vom 25. Februar 1975 fest: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen“.

Die Würde des Menschen

Auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG kommt „jedem“ Menschen vom Anfang seiner Existenz an zu. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1975 klare Worte gefunden. Weil der Entwicklungsprozess des Menschen „ein kontinuierlicher Vorgang“ sei, der keine scharfen Einschnitte aufweise und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen nicht zulasse, sei er auch nicht mit der Geburt beendet. Deshalb könne „der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf den ‚fertigen‘ Menschen nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen nasciturus beschränkt werden“. Die PID missachtet dieses Recht, indem sie es auf das unbelastete Kind beschränkt. Dem kranken oder belasteten Kind wird dieses Recht verwehrt. Die PID verletzt das den Rechtsstaat konstituierende Verbot, Unschuldige zu töten. Die Legalisierung der tödlichen Selektion erkrankter oder belasteter Embryonen wäre gleichbedeutend mit der Legalisierung privater Gewaltanwendung, die ebenfalls gegen eine Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates verstößt. Die PID stellt das Lebensrecht des Embryos zur Disposition der Eltern. Sie macht es vom Bestehen eines Eignungstests abhängig. Selbst wenn pro geborenem Kind nicht 33,7, sondern nur ein Embryo der tödlichen Selektion zum Opfer fallen würde, wäre die PID eine Verletzung des Rechts auf Leben, mithin verfassungswidrig.

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Diese 1994 beschlossene Ergänzung des Gleichheitsgrundsatzes in Art. 3 Abs. 3 GG veranlasste den Bundestag bei der Reform des Abtreibungsstrafrechts in § 218a StGB ein Jahr später, auf die embryopathische Indikation, die eine Abtreibung rechtfertigen sollte, zu verzichten. Eine Abtreibung aufgrund einer Behinderung des Embryos wäre ein offenkundiger Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot. Genauso ist die PID eine Verletzung dieses Diskriminierungsverbots. Sie sucht gezielt nach behinderten oder genetisch belasteten Embryonen, um sie von einer Übertragung in eine Gebärmutter auszuschließen. Sie setzt die stillschweigende oder auch katalogisierte Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben voraus. Sie dient nicht der Verhinderung, sondern der Vernichtung von belasteten Embryonen. Dass die Menschen gezeugt und nicht erzeugt werden, ist die Voraussetzung der prinzipiellen Gleichheit, mithin die Grundlage einer Demokratie. Werden Menschen dagegen einer PID unterzogen, bevor sie die Lizenz zum Leben erhalten, hängt ihr Leben vom Urteil und vom Willen des Reproduktionsmediziners ab, dem die Eltern die Ressourcen geliefert haben. Durch die PID gewöhnt sich die Gesellschaft nicht nur an eine Einkaufsmentalität bei der Fortpflanzung, sie öffnet vielmehr das Tor zu einer eugenischen Gesellschaft. Eine Reproduktionsmedizin, die den Menschen nicht mehr als empfangenes Geschöpf, sondern als bestelltes Produkt betrachtet, verändert die gesellschaftlichen Beziehungen. Der Mensch, der „gemacht“ wird, kann auch zerstört werden. Die PID ist deshalb weder fair für alle Beteiligten noch fördert sie Freundschaft und guten Willen. Sie dient auch nicht dem Wohl aller. n

Der Text basiert auf einem Vortrag des Autors anlässlich des Rotary-Tags 2011 in Bremen.

Manfred Spieker
Prof. Dr. Manfred Spieker (RC Osnabrück) ist em. Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück. Zu seinen Büchern gehört u.a. „Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa“ (2011, Schöningh). kath-theologie.uni-osnabrueck.de

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