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Kernenergie als Energiequelle: Chancen, Risiken und Fragen

Eine Energiezukunft mit Augenmaß

Joachim Knebel27.04.2011

Die gewaltige Naturkatastrophe, die das japanische Volk am Freitag, 11. März 2011, getroffen hat, zerstörte durch eine verheerende Kombination von Erdbeben und Flutwelle große Landstriche im Nordosten der japanischen Hauptinsel Honshu und brachte unvorstellbares Leid über die Menschen. Die stolze Technologienation Japan ist schwer getroffen. Gelähmt und fassungslos stehen die Überlebenden in den Trümmern – und betrauern ihre Toten. Ausdruckslos. Ich denke, wir können uns nur schwer eine Vorstellung von dem menschlichen Leid und den Zerstörungen machen. Wir können wahrscheinlich nicht in die Seele des japanischen Volkes blicken. Doch damit leider nicht genug: Die Kernkraftwerke am Standort Fukushima I wurden von dem Erdbeben und der Flutwelle derart stark beschädigt, dass ein Großteil der Kühlsysteme und Aggregate der Reaktoren sowie der Infrastrukturen in der Umgebung des Kraftwerkstandorts ausgefallen sind oder total vernichtet wurden. Kein Strom, kein Wasser, kein Telefon, keine Straßen. Alles gespenstisch leise. Die Bilder, die uns über die Medien erreichen, geben Grund anzunehmen, dass das Schlimmste eintreten könnte. Zurzeit tritt starke Radioaktivität aus den Reaktorkernen und aus den Brennelement-Lagerbecken aus. Die Informationen und Daten, die uns Wissenschaftlern am Tag 8 nach Fukushima zur Verfügung stehen, erlauben nur eine ungenaue Beschreibung des Zustands der Reaktoren und somit keine verlässliche Extrapolation der Ereignisse in die Zukunft. Die Bilder in den Medien zeigen uns uniform gekleidete Betriebs- und Rettungsmannschaften, die versuchen, die Katastrophe abzuwenden und die Reaktoren zu kühlen. Wasser ist zurzeit das höchste Gut am Kraftwerksstandort – sowie der unbeschreibliche Mut der Helfer, die mit ernsten Gesichtern das Gut ihrer eigenen Gesundheit hinter die Gesundheit ihres Landes stellen. „Service Above Self – Selbstloses Dienen“: Es bedarf hier keiner weiteren Worte.

Als Gastwissenschaftler habe ich eine wertvolle und erfahrungsreiche Zeit im Japan Atomic Energy Research Institute (JAERI, heute JAEA) in Tokai-mura verbracht und mich intensiv mit der Sicherheitstechnologie von Siedewasserreaktoren beschäftigt. Es ging um Kühlungsfragen, um die Stabilität der Kühlmittelströmung durch den Reaktorkern unter verschiedenen Störungseinflüssen. Die Ergebnisse konnten durch dimensionslose Kennzahlen eindeutig beschrieben werden – solange Kühlmittel vorhanden war. Eine ganz aktuelle Fragestellung.

Gefährlich, aber unverzichtbar

Kernenergie deckt heute in Deutschland etwa 22 Prozent des von uns genutzten Stroms ab. Und trägt damit in erheblichem Maße zu unserem Wohlstand bei, 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr. Die Kernkraftwerke in Deutschland sind sicher – sie gehören zu den sichersten Anlagen der Welt. Wir haben die Ereignisse definiert, denen Kernkraftwerke standhalten müssen. Das Fachpersonal in den Kraftwerken ist geschult und verantwortungsbewusst, wir haben sehr hohe Sicherheitsstandards. Die kerntechnische Lehre und Ausbildung an unseren Hochschulen ist exzellent. Unsere Forschung ist führend, oftmals federführend und international geachtet. Wir dürfen ruhig ein wenig stolz darauf sein. Dennoch muss ich mir neue Fragen stellen. Ich schreibe diesen Beitrag am Tag 8 nach Fukushima. Können wir sichere Kernkraftwerke bauen? Können wir heute alle Ereignisabläufe erdenken und schlüssige Sicherheitssysteme entwickeln, sodass diese allen in der Zukunft kommenden, realen Ereignisabläufen widerstehen? Wir müssen uns mit einer neuen Frage konfrontieren: Haben wir das Undenkbare in unsere technischen, regulativen und politischen Annahmen, Fakten und Entscheidungen einbezogen? Kennen wir die Grenzen, die uns die Natur zeigt oder noch zeigen wird?

Als Wissenschaftsmanager bin ich der Überzeugung, dass wir kerntechnische Einrichtungen nicht isoliert von einem ganzheitlichen Energiekonzept für Deutschland und auch nicht isoliert von unseren europäischen Nachbarn betrachten dürfen. Kernenergie ist ein maßgeblicher Bestandteil unserer Energieversorgung in Deutschland, der nicht vorschnell und unüberlegt herausgenommen werden sollte. Eile und Hast sind sicherlich ein schlechter Ratgeber.

Aufgaben für die Wissenschaft

Bei der Entwicklung von Energieszenarien im Allgemeinen und unserer Energiezukunft im Speziellen ist es nicht entscheidend, sich ein ehrgeiziges Ziel zu setzen und dann den Weg dorthin linear zu extrapolieren. Leider findet dieses Vorgehen allzu oft Anwendung. Es ist entscheidend, sämtliche technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Randbedingungen – aber auch die Grundgesetze der Thermodynamik und der Physik – bei der Extrapolation in die Zukunft sehr sorgfältig zu berücksichtigen.

Für eine solche sorgfältige Betrachtung sind Stichworte wichtig wie: Zeitverfügbarkeit und Fluktuation von Energieanlagen, Speicherung von Energie und Strom in bisher nicht vorstellbaren Größenordnungen, leistungsfähige Energieverteilungsnetze, Importabhängigkeit, Klimadiskussion, Energie- und Ressourceneffizienz. Wann wird welche Technologie marktreif sein und wie kann ich bestimmte Entwicklungsprozesse beschleunigen? Können wir den Anstieg unseres Stromverbrauchs im letzten Jahr in Deutschland, der 2010 etwa 3,7 Prozent über alle Kundengruppen betrug, auch in Zukunft vertreten und gutheißen? Die Worte Einschränkung und Kosten werden für jeden Einzelnen von uns eine neue Bedeutung erlangen. Dabei wird es sicher nicht immer einfach sein, ambitioniertes Wunschdenken und technisch Machbares redlich und ideologiefrei auseinanderzuhalten.

Gefragt: Ganzheitliche Lösungen

Für eine solide Beantwortung dieser Fragen ist es entscheidend, Deutschland als Vorbild zu nutzen und entschlossen voranzuschreiten. Als Ingenieur und Wissenschaftler, der in zahlreiche internationale Beratungs- und Entscheidungsgremien gebeten wurde, bin ich der Überzeugung, dass ein industriell und technologisch hoch entwickeltes Land wie Deutschland in der Entwicklung und Umsetzung von Energieszenarien und auch der Kernenergie international sprechfähig sein muss. Diese Sprechfähigkeit und die damit verbundene Glaubwürdigkeit werden wir von unseren Nachbarn nur dann zugesprochen bekommen, wenn wir aktiv an einer solchen Technologie arbeiten und diese weiterentwickeln. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren und Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), das entlang der drei strategischen Handlungsfelder Forschung, Lehre und Innovation exzellente Leistungen für unser Land erbringt, sehe ich mich in der Pflicht, in die Zukunft zu blicken und ganzheitliche Lösungen zu erarbeiten. Um dies zu erreichen, werden uns höchste wissenschaftliche, technologische und gesellschaftspolitische Leistungen in den unterschiedlichsten Disziplinen abverlangt werden. Vor allem in den Natur-, Ingenieur- sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften.

Lehren aus Fukushima

Zurück zu Japan: Das Karlsruher Institut für Technologie hat federführend für die Helmholtz-Gemeinschaft insgesamt sechs Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich mit den Auswirkungen der Naturkatastrophen auf die Kernkraftwerke in Fukushima beschäftigen. Dabei arbeiten wir sehr eng mit der Gesellschaft für

Reaktor- und Anlagensicherheit (GRS), dem Kompetenzverbund Kerntechnik, der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sowie Institutionen in Japan zusammen. Ziel ist die Zusammenfassung der wissenschaftlichen Expertisen, um für die Politik, die Medien und die Bürger wesentliche Fragen zu den aktuellen Ereignissen beantworten und bestmöglich bewerten zu können. Für eine Neubewertung der Kerntechnik in Deutschland bedeutet das, dass wir Ereignisse und Grenzwerte neu denken und definieren. Unsere Expertise stellt dabei einen wesentlichen Stein in dem Fundament dar, auf das neue Entscheidungen für Deutschland gebaut werden können. Unsere ganzheitlichen Lösungsvorschläge für eine deutsche Energiezukunft können dann – mit dem erforderlichen Augenmaß – von den Entscheidungsträgern in Deutschland aufgegriffen und in konkrete Maßnahmen für unser Land überführt werden.

Ein Gedanke zum Schluss: In Tokai-mura hat die Labormannschaft, mit der ich zusammenarbeiten durfte, vor Beginn der Experimente immer einen kleinen Altar mit Reis und Sake an der Testanlage eingerichtet, um ein Gelingen des Vorhabens und gute Messergebnisse zu erbitten. Ich bin sicher, die Rettungsmannschaften haben auch in Fukushima einen solchen Ort der Hoffnung und des Mutes eingerichtet.

Joachim Knebel
Dr. Joachim Knebel ist seit 2014 Bereichsleiter für Maschinenbau und Elektrotechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Von 2002 bis 2014 war er außerdem Sprecher des Helmholtz-Programms „Nukleare Entsorgung und Sicherheit“. Seit 2012 ist er Sprecher des Helmholtz-Querschnittthemas „Elektromobilität“.
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