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Kunst des 19. Jahrhunderts

Wieso sie uns plötzlich so begeistert

In der Welt der Kunst scheint es gerade so, als stünde die deutsche Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor einer Neubewertung. Was hat dieser Trend zu bedeuten? Und wie konnte es dazu kommen, dass einige Künstler so lange Zeit in Vergessenheit gerieten, obwohl sie einst als Lieblinge der Deutschen galten? Antworten liefert das August-Titelthema. Einige vergessene Kunstwerke zeigt eine Fotostrecke.

Florian Illies16.08.2013

Die Frage, warum die Kunst des 19. Jahrhunderts in Deutschland so lange vergessen wurde, ist genauso interessant wie die Frage, warum sie jetzt mit solcher Wucht wiederentdeckt wird. Und natürlich haben beide Antworten sehr viel miteinander zu tun.

Die Kunst des 19. Jahrhunderts war wie ein großer Raum in einem riesigen Schloss, der jahrzehntelang nicht betreten wurde. Kaum jemand wusste nach ein paar Jahrzehnten noch, warum man die Tür eigentlich nicht mehr öffnen durfte. Die ganz Alten erinnerten sich noch mit leuchtenden Augen an die Schätze hinter der Tür. Aber die Hofgesellschaft begann zu flüstern und zu zischen, wenn es um das ging, was sich dort verbarg. Aber irgendwann, und das ist in unserem Fall am Anfang des 21. Jahrhunderts, kam eine neue Generation und stellte neugierige Fragen: Warum ist die Tür zu diesem Raum eigentlich zu? Warum wurde sie verschlossen und wann? Und was ist dort wohl verborgen? Manch einer wagte den neugierigen Blick durchs Schlüsselloch, er sah viele goldene Rahmen und dazwischen Bilder, die gar nicht gefährlich wirkten, sondern schön, anziehend, verwirrend. So also begann die Wiederentdeckung es 19. Jahrhunderts: durch neugierige, unvoreingenommene Blicke.

Ursachen für das Vergessen

Aber wie begann seine Verbannung? Sie begann im Deutschland der Nachkriegszeit und sie dauerte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Der Grund ist sehr einfach: Die Kunst des 19. Jahrhunderts konnte sich nicht dagegen wehren, von den Nationalsozialisten sehr geschätzt und gegen die Kunst des deutschen Expressionismus ausgespielt zu werden. Hitler, Speer und die nationalsozialistische Kunstideologie reduzierten Ludwig Richter und Hans Thoma und Caspar David Friedrich und all die anderen großen Maler des 19. Jahrhunderts auf deren „Deutschtum“, sammelten sie, priesen sie an und wollten ihr in Hitlers Führermuseum in Linz ein Monument errichten. Gleichzeitig entfernten sie in einem brutalen Feldzug gegen die Moderne den deutschen Expressionismus als „entartet“ aus den deutschen Museen. Es ist darum nachvollziehbar, dass nach dem Ende der Nazizeit die Museen sich darum bemühten, die als „entartet“ gebrandmarkten Werke zu rehabilitieren. Und dass andererseits die Nachkriegsgeneration einen weiten Bogen um jene Werke machte, die die Nazis schätzten. Parallel dazu setzte in den sechziger und siebziger Jahren der Siegeszug der Abstraktion und der Moderne in Deutschland ein, wodurch die Kunst des 19. Jahrhunderts nicht nur moralisch, sondern auch ästhetisch als überlebt galt. Kaum ein Museum sammelte mehr 19. Jahrhundert, kaum ein Privatmann (außer Georg Schäfer in Schweinfurt), an den Universitäten wurde Gegenwartskunst gelehrt oder Renaissance. So verschwand die Kunst des 19. Jahrhunderts langsam fast vollkommen aus dem Bewusstsein. Auch im Kunsthandel spielte sie lange keine besondere Rolle. Die Tür war verschlossen.

Was dann geschah, lässt sich vielleicht am besten mit dem wunderbaren Bild von Adolph Menzel „Das Balkonzimmer“ beschreiben. Denn als die ersten Neugierigen den Raum der Kunst des 19. Jahrhunderts betraten, fuhr ein Luftzug durchs Fenster, riss die Gardinen zur Seite und Licht und Luft brachen herein. Staunend blickten immer mehr Menschen, die ihren Blick auf die Kunst nicht durch Moral oder durch Ideologie verbaut hatten, auf eine Kunst, die voller Lebendigkeit und Frische war.

Wiederentdeckung einer Epoche

Und es ist in der Tat so: Was im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland geschah ist künstlerisch so reichhaltig und so qualitätsvoll, dass es sich mit der französischen Kunst messen kann. Was sich dort zwischen Ingres, David und den Impressionisten an ästhetischen Explosionen in hundert Jahren ereignet, kann nur von den Deutschen ebenbürtig aufgefangen werden. So startet das 19. Jahrhundert mit dem Paukenschlag der Romantik: Runge und vor allem Caspar David Friedrich erfinden die Malerei neu, während parallel die Nazarener die Zeichenkunst wieder zu den Höhen der altdeutschen Kunst führen. Dann bricht sich bald der frühe Realismus Bahn mit Jahrhundertfiguren wie Carl Blechen und Adolph Menzel, eben jenem Maler des „Balkonzimmers“, der aber ebenso die beginnende Industrialisierung in seinem „Eisenwalzwerk“ in Kunst übersetzte. In Düsseldorf, München und Dresden entstehen parallel Malerschulen mit großer Bedeutung und hervorstechenden Künstlern, die in der Grauzone zwischen Romantik und Realismus einen deutschen, symbolisch aufgeladenen Mittelweg finden. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dann kommen mit Böcklin, Stuck, Marees die großen Heroiker und Symbolisten, die parallel von den deutschen Impressionisten wie Liebermann, Uhde, Sterl begleitet werden.

Nach diesem Jahrhundert voller Kunst und voller Ikonen sorgt dann am Anfang des 20. Jahrhunderts der Expressionismus der „Brücke“-Maler und des „Blauen Reiters“ dafür, dass die Kunst des 19. Jahrhunderts das erste Mal in Vergessenheit gerät. Aber nach der These von Francis Haskell, dem bedeutendsten Geschmackshistoriker, kann man nur zur Ikone werden, wenn man einmal vergessen war. Weil es die Wiederentdeckung ist, die so viel Energie freisetzt und es die neuen Blicke einer neuen Zeit sind, die Dimensionen in Werken der Vergangenheit entdecken, die den Zeitgenossen fremd bleiben mussten. In den 1850er, 1860er Jahren etwa wird in den Katalogen der Alten Nationalgalerie sehr ausgiebig über heute völlig unbekannte Maler referiert und „Friedrich aus Dresden“ wird nicht mehr als lapidar erwähnt. Die erste Rehabilitation des 19. Jahrhunderts fand dann 1906 in der sogenannten „Jahrhundertausstellung“ in Berlin stand – eine riesige Ausstellung und die meisten Journalisten und Besucher rieben sich verwundert die Augen über die Qualität und Schönheit der Kunst, die ihnen da vor Augen geführt wurde. Erst seit dieser Ausstellung gilt Caspar David Friedrich als nationale Ikone. Ob ein Künstler wirklich zum Kanon gehört, entscheiden also nicht aktuelle Hitlisten, sondern die strengste Richterin: die Zeit. Sie ist unbarmherzig, aber auch sehr geschmackssicher. Sie schaut nur auf Qualität, jenseits aller zeitgenössischen Bezüge.

Das Prinzip der Kanonisierung gehorcht biologischen Gesetzen. Es ist ein altes Gesetz der Evolution, dass die Kinder immer gegen die Ästhetik Ihrer Eltern aufbegehren und nach ihren eigenen, zeitgemäßen Darstellungen suchen. Genauso vorhersehbar ist dann das „Roll-back“ der Enkelgeneration: Plötzlich werden die Schätze der Großeltern wiederentdeckt. An genau diesem Punkt steht die Bewertung der Kunst des 19. Jahrhunderts jetzt geschmacksgeschichtlich in Deutschland. In den anderen großen europäischen Kulturnationen – wie in England, Frankreich, Italien oder Spanien – verlief die Entwicklung ohne Erschütterungen ab wie in Deutschland. Dort wurde die Kunst des 19. Jahrhunderts seit jeher gewürdigt – und vor allem auch auf dem Kunstmarkt mit sehr hohen Preisen bedacht. Nur in Deutschland, wo es durch die fatale Liebe der Nationalsozialisten zur Kunst des 19. Jahrhunderts und die schrecklichen Säuberungsaktionen der „Entarteten Kunst“ eine nachhaltige und verständliche Verstörung gab, ist dieser Prozess mit großer Zeitverzögerung in Gang gekommen.

Neue Lust des Publikums

Nun aber steht an der Spitze der Alten Nationalgalerie in Berlin mit Philipp Demandt, Jahrgang 1971, ein glühender Liebhaber der Kunst des 19. Jahrhunderts – und auch an den Universitäten und den Museen im ganzen Land ist plötzlich eine neue Generation am Werk, die mit großer Neugier und Lust den so lange verschlossenen Raum des 19. Jahrhunderts neu besiedelt und entschlüsselt. Ausstellungen wie die über den „Impressionismus“ oder den „Symbolismus“ in Deutschland in Bielefeld, wie die über die „Schwarze Romantik“ und „Hans Thoma“ in Frankfurt ziehen tausende von Besuchern an und erzählen von der neuen Lust des Publikums auf ein lang vergessenes Jahrhundert.

Vor unser aller Augen vollzieht sich so ein großer Geschmackswandel. Die Museen reagieren darauf und hängen ihre ständigen Sammlungen um: Das 19. Jahrhundert im Städel in Frankfurt ist ein ganz anderes, frischeres als man es vor zwanzig Jahren dort sah, die Hamburger Kunsthalle und das Lenbachhaus in München zeigen verstärkt jene Ölstudien, die die Künstler des 19. Jahrhunderts direkt vor der Natur schufen und die uns heute als besonders moderne und frische Kunstwerke von großer Zeitlosigkeit erscheinen. Es waren zuerst die großen amerikanischen Museen, die das erkannten und die Preise für diese Studien in die Höhe trieben; inzwischen haben das auch die deutschen Sammler und Institutionen als großes neues Sammelgebiet für sich entdeckt.

Der Kanon des 19. Jahrhunderts wird dabei neu geschrieben und es werden neue Namen die alten ergänzen. So wird die Kunst der Romantik längst nicht mehr nur mit Friedrich, sondern inzwischen auch mit Carl Gustav Carus, Christian Clausen Dahl und Christian Friedrich Gille verbunden.

Die großen Historienmaler des 19. Jahrhunderts haben es heute sehr schwer, sich zu behaupten, neue Namen kommen hinzu, die warme Malerei eines Fritz von Uhde oder die Kühnheit eines Robert Sterl stehen an der Seite von Max Liebermann. Es sind immer mehr Maler aus der zweiten Reihe, die plötzlich in unseren Blick fallen und die sich behaupten können – der Grund dafür ist immer dasselbe: Ihr Werk hat die Qualität, uns moderne Menschen, die wir vollkommen überfüttert sind von Internet, Fernsehen, Werbung, dennoch für eine Sekunde oder eine Stunde zu bannen.

Florian Illies
Florian Illies war unter anderem Leiter des Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und der „Zeit“ sowie Gründer und Herausgeber der Kunstzeitschrift „Monopol“. Seit 2011 ist er Mitgesellschafter des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach, das er Anfang 2019 wieder verlassen hat. Zuletzt erschien von ihm „Gerade war der Himmel noch blau: Texte zur Kunst“ (S. Fischer 2017).