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Wegweiser in die Zukunft

Wir werden, was wir sind und waren

Michael Thumser11.01.2013

Wer erinnert sich nicht? Wohl jeder besinnt sich in der zivilisierten Welt darauf, wo er war und was er tat, als er am 11. September 2001 hörte, dass sich zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers gebohrt hätten. Ebenso behalten wir die Medienbilder in unseren Köpfen: Manhattan als Schauplatz der Apokalypse. Seit 2006 wächst hier ein „Freiheitsturm“ empor; doch nicht dieser, sondern die Unheilstätte selbst – „Ground Zero“ – wird die Menschen der Terrortat gedenken lassen: ein internationaler Erinnerungsort. Einen Straßenzug entfernt hat sich die St. Paul’s Chapel mit ihren Andenken an die Toten zum nationalen Erinnerungsort gewandelt.

Jenes Schreckensdatum zählte, zum zehnten Mal wiederkehrend, 2011 zu den herausragenden Gedenktagen. Im vergangenen Jahr war es der 300. Geburtstag Friedrichs II. von Preußen, in diesem Jahr feiert die Kulturwelt u.a. die 200. Geburtstage der Komponisten Wagner und Verdi. Geschichte ist ein Kommen und Gehen: Sie geht uns verloren und kommt uns abhanden. Immer rascher wird zu Geschichte, was wir eben noch greifbar erlebten.

Mit gewaltigen elektronischen Datenspeichern behelfen wir uns, die Orientierung zu behalten, mit dem Internet, das nichts vergisst. Aber auch mit Museen: Bis zu hundert Millionen Besuche werden jährlich gezählt – hundert Millionen Abruf-Vorgänge des kollektiven Gedächtnisses. Parallel dazu haben im Fernsehen „History“-Formate Konjunktur. Und doch warnen manche Wissenschaftler, dass in der Bevölkerung das geschichtliche Wissen schwinde. Träfe dies zu, bestünde Grund zur Sorge: Zusammen mit der Erinnerung an wichtige Ereignisse ginge die Einsicht verloren, dass jene Ereignisse auch interpretiert werden müssen, um verstanden zu werden. Nicht wenige Menschen, die in Zeiten der Krise nach absoluten Wahrheiten verlangen, drohen demagogischen Allheillehren aufzusitzen. Da schützt historisches Wissen vor Unmündigkeit.

Andererseits faszinieren vor allem die „runden“ Jubiläen – jene mit einer Null am Ende – auch historisch wenig Interessierte. Sie passen in den „memory boom“, wie ihn Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftler seit den 1980er-Jahren beobachten. Allerdings: Geschichte selbst ist keine „runde Sache“. Jahreszahlen sind zufällige Daten, die für sich genommen nichts aussagen über das Gewicht eines Ereignisses, den Stellenwert einer Persönlichkeit, den Moment einer Zeitenwende. Und doch schaffen Daten mit der kreisähnlichen Null am Ende die reizvolle Einbildung, es kreiste das Chaos der Menschen und Geschehnisse in sich, es gäbe immer wieder einmal einen reinigenden Schlusspunkt. Wer aus „rundem“ Anlass sich auf einen Augenblick der Vergangenheit konzentriert, der lernt, das eigene Bild in der Gegenwart zu entwerfen. Wer sich mit Stationen des Gestern auseinandersetzt, begreift auch das Heute als Station auf dem Weg in die Zukunft. Geschichte ist kein Fach, das nur in der Schule spielt.

In der Bundesrepublik floriert eine Erinnerungskultur. Indes fällt dabei auf, dass das, worauf sich die Menschen kollektiv besonders innig besinnen, hinter negativen Vorzeichen steht: der Nationalsozialismus mit seinen Massenmorden, der ostdeutsche Wechsel von der einen Diktatur in die nächste. Seit den späten Sechzigern schonen wir Deutschen uns beim Erinnern nicht. Der britische Historiker Peter Watson rügt uns denn auch, dass wir es übertreiben: Zahllose ehrwürdige deutsche Namen und aufbauende Errungenschaften, klagt er, seien „aus historischen, nicht zuletzt mit Krieg und Völkermord verbundenen Gründen im vergangenen halben Jahrhundert unbeachtet geblieben oder aus dem kollektivem Bewusstsein gelöscht worden“. Das deutet auf Grundsätzliches hin. Beim Gedächtnis haben wir es mit etwas Bruchstückhaftem und nachträglich Konstruiertem zu tun. Gedächtnis ist der Erinnerungsort in unserem Gehirn, wo wir Kenntnisse und Fertigkeiten, Ideen und Gefühle speichern mitsamt ihrem Sinn und ihren Beziehungen. Erinnerung heißt das Verfahren, jene Daten abzurufen.

Gedächtnis und Identität

Neurobiologen können im Gehirn keine bestimmte Region als Sitz des Erinnerungsvermögens benennen. Fest steht: Mathematisch strukturiert wie ein Computer funktionieren Gehirn und Gedächtnis nicht. In starkem Maß stellt Erinnerung sich ein durch die freie Assoziation, den Geistesblitz; eine ungemein kreative Methode. Zugleich freilich sorgt sie dafür, dass wir leicht uns täuschen lassen und uns selber täuschen, dass wir irren – und dass wir vergessen, das allermeiste, das uns widerfährt.

Stets ist Erinnerung, sofern sie greifbar und begreifbar werden soll, an Sprache gebunden. Nur was jemand in Begriffe fasst, steht seinem Bewusstsein dauerhaft zur Verfügung. Und zwar nur seinem persönlichen Bewusstsein, das eines anderen mag mit demselben Datensatz ganz anders verfahren. Zwei Menschen, zu Zeugen eines gleichzeitig erlebten Ereignisses aufgerufen, werden nie dieselbe Geschichte davon erzählen. Poetisch räumt denn auch der Popularphilosoph Richard David Precht ein, es lasse sich trefflich „darüber streiten, ob die Welt aus Atomen aufgebaut ist oder aus Geschichten“.

Durch autobiografische Erinnerungen wird Leben zur Lebensgeschichte – zu etwas letztlich Fiktivem, das aber zwischen der allumfassenden Wirklichkeit und dem Individuum vermittelt, indem es die Erzählung des Einen in die Erzählung aller einpasst. Kollektive Erinnerung ist Erinnerung an Gemeinsames, das Angehörige einer Gruppe, Gesellschaft, Nation miteinander teilen, indem sie es einander mitteilen. Sie bildet den gemeinsamen Nenner einer von den meisten gefühlten Identität. In der Schöpfung stehen wir Menschen damit einzig da.

Ohne Gedächtnis keine Identität. Ein 50-Jähriger mag kaum noch Ähnlichkeiten feststellen können zwischen sich und dem fünfjährigen Kind, das er war; und doch verknüpft das sich erinnernde Ich das Einstige seines Lebens mit dem Jetzigen und projiziert es deutend ins Künftige hinein. Als Ergebnis kommt Selbst-Bewusstsein heraus: Ich bin, wer immer ich war und der ich sein werde. Nicht anders findet ein Volk, eine Nation zu sich.

Das individuelle Gedächtnis, so postulierte der französische Soziologe Maurice Halbwachs, sei stärker von der Gegenwart als von der Vergangenheit bestimmt. Beim Blick auf unsere gemeinsame Geschichte begreift jeder, dass alle gegenwärtigen Dinge beständig weiter fließen, dass allein der Wandel stetig ist. Wir Menschen mit unseren schwankenden Maßstäben sind keine Macher, sondern allenfalls Mitspieler der Geschichte, Material und Zwischenergebnis eines Entwicklungsprozesses, über dessen Ausgangs- und Endpunkt Philosophen, Theologen, Künstler seit jeher spekulieren.

Darf uns gerade in krisenhaften Zeitläuften wundern, dass wir nach Griffen suchen, uns daran festzuhalten? So wie die „runden“ Jubiläen helfen dabei die Erinnerungsorte, wie sie Historiker seit den 1980er-Jahren als besonders anschauliches Paradigma ihrer Wissenschaft benennen. „Ort“ ist dabei nicht geografisch gemeint. Der Franzose Pierre Nora beschrieb 130 solcher „lieux de mémoire“ in der Kultur seiner Heimat und erklärte sie als Orte, „an denen sich das Gedächtnis der Nation in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat“. Auch die Herren den Boer, Duchhardt, Kreis und Schmale, in den von ihnen unlängst edierten drei Bänden mit „Europäischen Erinnerungsorten“, sehen in ihnen „Punkte im Ablauf der Geschichte, an denen sich positiv oder negativ besetzte Erinnerung breiterer Schichten verfestigt und eine Idee von einem gemeinsamen Erbe entstehen lässt“.

Orte der Erinnerung

Demnach können Erinnerungorte Städte und Stätten sein wie Bayreuth oder Weimar; wirkliche Personen wie Wagner oder Goethe; fiktive Gestalten wie der Doktor Faust oder Sprachkunstwerke wie Goethes Tragöde über ihn; Grab-, Denk-, auch Schandmäler wie die Berliner Mauer; Ereignisse wie Flucht und Vertreibung; Lebenswelten wie das protestantische Pfarrhaus; Rituale wie Weihnachten; technische Errungenschaften wie der VW-Käfer oder die Antibabypille; Momente wie der Feierabend ...

Wahrscheinlich liegt in den Erinnerungsorten beschlossen, was Johann Gottfried Herder bereits im klassischen Weimar ersehnte: ein „Band“, das „das Volk bindet wie der Ganges die Inder“. In ihnen äußert sich die Idee eines gemeinsamen Erbes vor allem im Guten, kaum je mit der Hoffnungslosigkeit des Holocaust oder des 11. Septembers. Geschichte, als Wegweiser nach vorn, taugt für uns Menschen nur so weit als feste Größe, wie es sich für uns lohnt, auf sie zurückzuschauen. Erinnerungsorte berichten vom Menschen: wie er war und wie er wurde, was er ist. Wir suchen jene Orte auf, indem wir von ihnen erzählen – weil vielleicht sogar die Welt, gewiss aber die Geschichte nicht aus Atomen, sondern aus Geschichten besteht.