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Zwischen Euphorie und Realismus

Die Globalgeschichte war die Antwort der Historiker auf die Globalisierung. Die Renationalisierung in zahlreichen bedeutenden Ländern in jüngster Zeit hat manche Illusion zerstört

Jürgen Osterhammel01.07.2017

Leser von Büchern über die Vergangenheit und von anspruchsvol­le­ren Geschichtsmagazinen interes­sieren sich in erster Linie für die Geschichte der eigenen Gruppe, des eigenen Landes und eventuell noch der eigenen Zivilisation, deren Wurzeln man in die Antike zurückverfolgt. Das ist eine unumstößliche Erfahrungstatsache des Verlagsgeschäfts. Sie kann nicht verwundern und sollte kein Kopfschütteln verursachen. Sich Rechenschaft über die eigene Herkunft abzugeben ist völlig legitim. Im deutschen Schulunterricht wird vor allem deutsche Geschichte behandelt; die Universitätsausbildung spiegelt diese Prioritäten. 

Nationale Geschichte ist nur dann problematisch, wenn sie zu nationalistischer Geschichte gesteigert wird. Dann wird die eigene Nation über die Nachbarn gestellt, werden nationale Heldenfiguren unkritisch verehrt. Eine solche Art der Geschichtsdarstellung gibt es nach wie vor in vielen Ländern der Welt. Nicht nur Diktaturen sorgen sich um ein mobilisierendes und „positives“ Geschichtsbild. In Deutschland hingegen ist ein solch enges und exklusives Verständnis der Vergangenheit bereits seit 1945 diskreditiert. Die Geschichtswissenschaft hat sich der Aufklärung und der Kritik verschrieben und scheut vor keinem Tabuthema zurück. Dies ist spätestens so, seit der Hamburger Historiker Fritz Fischer und seine Schüler in den frühen 1960er Jahren die erhebliche Mitverantwortung der deutschen Eliten für den Ersten Weltkrieg nachwiesen und einige Jahre später die „Bielefelder Schule“ um Hans-Ulrich Wehler in vielen Publikationen eine Geschichte der deutschen Gesellschaft und ihrer inneren Krisen und Verwerfungen erarbeitet hat. 

Selbst- und Fremdbetrachtungen

Geschichtsschreibung scheint also weithin der Selbstvergewisserung zu dienen: nicht nur, wenn sie sich zu patriotischer Propaganda aufgerufen fühlt, sondern ge­ra­de auch dann, wenn sie den Fehlentwick­lungen oder gar Verbrechen in der eigenen Nationalgeschichte nicht ausweicht. Ein Blick auf die Geschichte der Geschichtsschreibung relativiert dieses Bild allerdings ein wenig: Selbstvergewisserung ist immer schon mit Fremdbeschreibung einhergegangen. Bereits der Grieche Herodot, seit den Römern als pater historiae gefeiert, hat im 5. Jahrhundert v. Chr. die „Anderen“ beobachtet und dargestellt: ihre Lebensweise und Glaubensvorstellung, ihre Politik und ihre Geschichte. Er hat dies für Skythen, Perser und Ägypter getan. Auch die berühmte „Germania“ des Tacitus ist mit einem kühlen Blick von außen geschrieben.

Einige der Klassiker einer modernen Geschichtsschreibung befassten sich mit nicht-deutschen Themen. Leopold von Ran­ke, der einflussreichste deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts, widmete seine besten Werke der Geschichte Englands, Frankreichs und der römischen Päpste. Jacob Burckhardt, der geniale Basler, schrieb über die Renaissance in Italien. Umgekehrt stammen heute allseits an­erkannte Standardwerke zur deutschen Geschichte von ausländischen Historikern und Historikerinnen wie dem Hitler-Biografen Ian Kershaw, dem Sozialhistoriker und NS-Spezialisten Richard J. Evans oder der australischen Luther-Kennerin Lindal Roper. In den USA beschäftigt jede bes­sere Geschichtsfakultät Experten für alle großen Weltregionen; davon sind wir in Deutschland übrigens noch weit entfernt. 

Es ist also nichts Besonderes, wenn Geschichte über Grenzen hinweg und mit einem Blick „von außen“ geschrieben wird. Eben dies tut auch die seit etwa zwei Jahrzehnten immer mehr Zuspruch findende „Globalgeschichte“, die zuerst in den USA und Großbritannien als Global History auftrat. Sie macht es nur in einem noch viel größeren Maßstab und lässt die Orientierung an Nationalgeschichte, ob nun der eigenen oder der fremden, weitgehend in den Hintergrund treten. Damit schließt sie an die ältere „Weltgeschichte“ an, wie es sie spätestens seit dem 18. Jahrhundert in Europa gibt. Mehrere vielbändige ­Werke tragen diesen anspruchsvollen Titel. Gerade in der Bundesrepublik sind seit der legendären Propyläen-Weltgeschichte (1960–65) immer wieder Monumente dieser Art als Gemeinschaftsprodukte – oder „Buchbindersynthesen“ – zahlreicher Autoren herausgebracht worden.

Erweiterung der Perspektiven 

Zugleich distanziert sich die neue Globalgeschichte von gewissen Facetten der weltgeschichtlichen Tradition. Sie will nicht vollständig und enzyklopädisch sein, strebt also keineswegs danach, alle Epochen und alle Regionen oder „Weltkulturen“ lückenlos abzudecken. Auch geht es ihr nicht unbedingt nur um das Große und menschheitlich Bedeutende: dramatische Ereignisse und Umbrüche, exzeptionelle Persönlichkeiten, revolutionäre Erfindungen und langfristige Hintergrundtendenzen. Sie ist skeptisch gegenüber der Anfälligkeit von Weltgeschichtsschreibung für das Pompöse und gegenüber ihrer Neigung zur Dramatisierung. „Aufstieg und Fall“ ganzer Großmächte und Zivilisationen bleibt ein Lieblingsthema solch vollmundiger Weltgeschichtsbetrachtung. 

Die Globalgeschichte untersucht großräumige Kontakte und Zusammenhänge. Auf besonderes sicherem Boden findet sie sich dort, wo sie das Entstehen und Funktionieren planetarischer Strukturen nachzeichnen kann: des Welthandels, des glo­balen Finanzsystems, einer weltweiten Ver­kehrs-, Informations- und Kommunikationsordnung (etwa der Geschichte von Telegrafie und Internet), der interkontinen­talen Migrationsmuster, der weiträumigen Ausbreitung von Religionen, der globalen Epidemien, des Transfers von wissenschaft­lichem und technologischem Wissen aus seinen Entstehungszusammenhängen in andere Kontexte, des Aufstiegs interna­tionaler Organisationen, die es überhaupt erst seit den 1860er Jahren gibt. 

Mindestens genauso reizvoll ist es für die Globalgeschichte jedoch, versteckte Spuren aufzudecken. Das können Individuen sein, die es auf selbstbestimmten Abenteuer- und Entdeckungsreisen oder auch als Söldner, Seeleute oder verschleppte Sklaven in entfernte Weltgegenden ver­schlug. Oder auch Waren, deren Wertschöp­fungskette – oft als commodity chain bezeichnet – Produzenten und Konsumenten auf unterschiedlichen Kontinenten verknüpfte, die nicht das mindeste voneinan­der ahnten. Manche Großereignisse, über die man alles zu wissen glaubt, erscheinen in einem neuen Licht, wenn man sie „global“ betrachtet. Zum Beispiel wurde während des Ersten Weltkriegs außerhalb des Osmanischen Reiches auf asiatischem Boden sehr wenig gekämpft. Dennoch war der Krieg für manche asiatischen Länder von fundamentaler Bedeutung: Soldaten aus Britisch-Indien (und ebenso aus den westafrikanischen Kolonien Frankreichs) oder Rüstungsarbeiter und Sanitäter aus Vietnam und China waren für den Krieg auf europäischen und nahöstlichen Schauplätzen unentbehrlich und verlangten nach Kriegsende den politischen Preis größerer Unabhängigkeit für ihre kolonisierten Länder. So erscheint, was floskelhaft „Welt“-Krieg genannt wird, tatsächlich als global. 

Das Ende der Euphorie

Die Globalgeschichte hat eine Entwicklungs­phase hinter sich, in der sie sich weit­hin als Geschichte der „Globalisierung“ ver­stand. Von den sozialwissenschaftlichen Globalisierungstheorien übernahm sie die Vermutung, die Welt würde kon­tinuierlich immer dichter integriert und damit auf ein Global Age allgegenwärtiger Wechselwirkungen zusteuern. Vernetzungen jeglicher Art fand man aufregend, wäh­rend das Unvernetzte auch wissenschaftlich ins Abseits geriet. Multieth­­ni­sche Hafen­städte wurden intensiv erforscht, während sich niemand mehr für die nur schwach mit der Außenwelt verbundenen Kleinbauern und Nomaden interessierte, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Mehrheit der Weltbevölkerung ausmachten.

Von einer solchen Vernetzungseuphorie sind aufmerksame Globalhistoriker spätestens durch die fragmentierenden Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit kuriert worden. Die nationalegoistische Wende in den USA, Großbritannien und mehreren anderen Ländern von Gewicht hat den Blick für Globales geschärft, vor allem für seine Verletzlichkeit. Sie hat aber auch die Illusion zerstört, die Menschheit sei bereits in ein „postnationales“ Zeit­­alter konfliktfreien Kommunizierens eingetreten.

Jürgen Osterhammel

Jürgen Osterhammel war bis zu seinem Ruhestand im April 2018 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz und gilt als einer der führenden Vertreter der Globalgeschichte. Zuletzt erschien „Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen ­Gegenwart“, (Beck 2017).