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Als die Rockmusik die Welt veränderte

Forum  - Als die Rockmusik die Welt veränderte
Bei diesem Konzert im Helsinki Olympic Stadium im Jahr 1970 waren die Rolling Stones längst Weltstars. © Kari Rainer Pulkkinen/Wikimedia Commons

Die Themen von damals stehen bis heute auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda: Demokratisierung, Liberalisierung, Toleranz, Diversität, Gleichstellung, Frieden, Umweltschutz, aber auch die Suche nach Sinn und neuer Spiritualität.

Volker Eichener01.03.2022

Dass eine bestimmte Art von Musik einen ganzen Staat erschüttern kann, hatte schon der Philosoph Platon erkannt. Rund 2300 Jahre später war es die Rockmusik, die Staaten erschüttert hat. Als David Bowie am 6. Juni 1987 vor dem Berliner Reichstag sein Lied Heroes über ein Liebespaar sang, das den Wachsoldaten der DDR trotzte, skandierte, wie die Stasi sorgfältig notierte, eine große Menge junger Leute aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat zum ersten Mal „Mauer weg!“. Zwei Jahre später war sie wirklich weg, und die Bundesregierung würdigte später Bowies Mitwirkung beim Fall der Mauer ausdrücklich. Vier Jahre später sollte der Song Wind of Change der Hannoveraner Scorpions zur weltweiten Hymne des Wandels in Deutschland, in der zerfallenden Sowjetunion und in vielen autoritären Staaten werden.

Die 60er brauchen ein Beben

Dass die Rockmusik Staaten erschüttern kann, sagt schon ihr Name. „They rock the city“ – „sie bringen die Stadt zum Beben“ hieß es bereits in einem Reisebericht aus dem Jahr 1819 über die afroamerikanischen Sklaven, die vor den Toren von New Orleans ihre schnelle, rhythmusbetonte, laute Musik spielten, deren Grundstruktur aus Strophen und Refrain die Popmusik bis heute prägt. Das englische Wort „rock“ hat die gleiche Wurzel wie das deutsche Wort „Ruck“ und bedeutet auch das Gleiche: eine heftige Bewegung, die etwas zum Beben bringt.

Aus den afroamerikanischen Work-Songs entwickelte sich zunächst der Blues, eine eher traurige Musik, deren Texte aber ganz andere Themen hatten als die von Liebeslyrik geprägten europäischen Lieder: Bluesstücke besangen Armut, harte Arbeit, Schicksalsschläge, aber auch Sex. Der schnell gespielte Jump-Blues wurde zum Rock and Roll, und dann schwappten diese Musikrichtungen nach England, wo sie von den jungen Leuten in Liverpool und London begeistert aufgenommen wurden.

2022, als die rockmusik die welt veränderte

Joan Baez und Bob Dylan singen in Washington beim Civil Rights March mit Martin Luther King am 28. August 1963 © Rowland Scherman/wikimedia commons

Die 1960er Jahre waren eine Zeit, die geprägt war von Konformismus (bei Ludwig Erhard hieß das „formierte Gesellschaft“), Illiberalität, Autoritarismus, Konsummaterialismus und – insbesondere in den USA – Militarismus sowie einer Kultur, die insbesondere viele junge Leute damals als spießbürgerlich und restriktiv empfanden. Gesellschaftliche Wertvorstellungen und Normen blieben sowohl hinter den wachsenden Anforderungen der Arbeitswelt an mitdenkende, selbstverantwortliche, kreative Mitarbeiter zurück als auch hinter der Bildungsexpansion, die zunehmend selbstständig und kritisch denkende junge Menschen hervorbrachte.

Ein Riff, das alles veränderte

Und dann kam die Nacht zum 7. Mai 1965, als, wie das Fachmagazin Rolling Stone schreibt, ein „magischer Funke das pubertäre Gehopse des Rock and Roll“ in echte Rockmusik verwandelte, indem nämlich dem Gitarristen der Rolling Stones, Keith Richards, im Schlaf ein typisches, hartes, prägnantes Rock-Riff einfiel, das er mithilfe des gerade entwickelten elektronischen Verzerrers in einem nie gehörten Sound einspielen sollte. Und sein Kollege Mick Jagger schrieb einen Text dazu, der gleichermaßen typisch für die neue Musikrichtung sein sollte. (I Can’t Get No) Satisfaction spielt einerseits mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Befriedigung“, der in der dritten Strophe tatsächlich mit einer für damalige Hörgewohnheiten unerhörten Explizitheit ins Sexuelle abdriften sollte. In den beiden ersten Strophen kritisiert der Sänger allerdings den hohlen Konsummaterialismus, die manipulative Werbung und die Oberflächlichkeit der Massenmedien.

Jagger sagte dazu, das Lied handele von „Entfremdung“. Entfremdung war eine zentrale Kategorie der Kritischen Theorie, einer kapitalismuskritischen Strömung der Soziologie. Einer ihrer Hauptvertreter, Herbert Marcuse, hatte in seinem Buch Der eindimensionale Mensch postuliert, dass der Kapitalismus mithilfe der Massenmedien und der Werbung die „wahren Bedürfnisse“ der Menschen durch „falsche Bedürfnisse“ überdecke, also durch das künstlich hervorgerufene Streben nach oberflächlichem Konsum, nach Mode, nach Statussymbolen und nach Ablenkung von der strukturellen Ausbeutung der Arbeitskräfte im Kapitalismus. Der Song Satisfaction hört sich an wie eine lyrisch-musikalische Umsetzung der Theorie des „eindimensionalen Menschen“, ebenso wie das Lied Mercedes Benz der Sängerin Janis Joplin, das die Perversion gesellschaftlicher Werte bloßlegt, wenn in dem Lied jemand zu Gott betet, ihm ein Luxusauto und einen Farbfernseher zu schenken.

In den aggressiven Rhythmen und den mal provokanten, mal tieftraurigen Texten der Rockmusik kam zum Ausdruck, dass die Jugend der Nachkriegszeit tiefgreifend frustriert war. Das rockig hämmernde Lied My Generation der englischen Band The Who enthielt den verzweifelten Vers „Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich alt werde“, der zeigt, wie heftig der Generationenkonflikt damals war. Die Beatles brachten mit She’s Leaving Home ein trauriges, auf einer wahren Begebenheit beruhendes Lied über eine Teenager-Tochter heraus, die sich von ihren Eltern unverstanden fühlte.

Der Generationenkonflikt entzündete sich einerseits an politischen Themen. Der Protestsänger Bob Dylan, der ein halbes Jahrhundert später mit dem Literaturnobelpreis geadelt wurde, griff die Generation der Eltern, Politiker und Unternehmer an, weil sie sinnlose Kriege in Vietnam und anderswo führte. Die Antworten auf die kritischen Fragen „verwehten im Wind“ (Blowin’ in the Wind), aber früher oder später würde sich die junge Generation durchsetzen (The Times They Are a-Changin’). Die Demonstrationen des Jahres 1968 kamen also mit Ansage.

Andererseits war die Jugendrevolte und die Musik, die sie begleitete, auch eine „Revolution des Stils“, wie es Marianne Faithfull ausdrückte, selbst als Sängerin, Stilikone und Partnerin von Mick Jagger eine Hauptakteurin des „Swinging London“. Zum Hauptsymbol des Aufbegehrens gegen die Normen der Nachkriegsgesellschaft wurde das Tragen langer Jahre, denen mit „Hair“ ein ganzes Musical gewidmet wurde. John Lennon und Yoko Ono warben 1969 nicht nur mit „bed peace“ für den Frieden, sondern auch mit „hair peace“, indem sie sich die Haare noch länger wachsen ließen. Gegen spießige Kleidungsvorschriften opponierte man mit Jeans, Armeeparkas (wie sie die Vietnamveteranen trugen), Turnschuhen (sollten im Jahr 1985 durch Joschka Fischer ministrabel werden), Batikblusen und allerlei Hippie-Outfits. Illegale Drogen wurden hauptsächlich konsumiert, weil sie den Reiz des Verbotenen trugen (für die meisten Angehörigen der Rockgeneration blieben sie nur eine Episode).

Keine Liebeslieder: Es ging um Sex

Zur Rebellion gegen allzu strikte (und zumeist heuchlerische) Normen gehörte aber insbesondere die sexuelle Freiheit, die in unzähligen Rocksongs besungen wurde, angefangen von All You Need Is Love (mit dem Vers „Es gibt nichts, was du machen kannst, das nicht gemacht werden kann“) über sehr explizite Lieder der Rolling Stones bis zum geradezu gegenständlichen Whole Lotta Love von Led Zeppelin. Es waren keine Liebeslieder, die zu schrillen Rock-Tönen gesungen wurden, sondern Sex-Songs. Und oft genug war die Liebe, um die es ging, schräg – oder „queer“, wie es heute auf Neudeutsch heißt (etwa bei Lola von The Kinks).

Es war die Sehnsucht des Bürgertums nach gesellschaftlicher Stabilität in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die den gesellschaftlichen Wandel wie ein Flaschenkorken blockiert hatte. Die Rocksongs, die mehr Jugendliche erreichten als die komplizierten Schriften eines Theodor W. Adorno, waren zugleich Seismografen der Stimmung in dieser Generation und auch Transmissionsriemen zwischen soziologischer Analyse und rebellischer Jugendbewegung. Und es waren die Rocksongs, die die Themen aufbrachten, die bis heute auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda stehen: Demokratisierung, Liberalisierung, Toleranz, Diversität, Gleichstellung, Frieden, Umweltschutz, aber auch die Suche nach Sinn und neuer Spiritualität. Praktisch all diese Themen werden in einem einzigen Werk abgehandelt: Dem seinerzeit auch in der Elterngeneration extrem populären Musical „Hair“.

Die Rockmusik hat gezeigt, dass Musik die Gesellschaft verändern kann – politisch, kulturell und sozial. Was in den 1960ern noch provozierend, rebellisch und schockierend war, prägt heute den gesellschaftlichen Mainstream. Und auch bei Rotary ist die Rockmusik längst angekommen, wenn Clubs Rockkonzerte veranstalten, wenn Rotarier das Heavy-Metal-Fest Wacken gemeinschaftlich besuchen oder sich zur Rotarian Metalhead Fellowship zusammengeschlossen haben. Und die Themen, die die Rocksongs aufgeworfen haben, sind auch längst auf der rotarischen Agenda – inklusive der (Geschlechter-) Diversität und mancher Lockerung des Stils, auch wenn sich der eine oder andere Club noch immer damit schwertut.


Buchtipp



Volker Eichener

They Rocked the City

Rockmusik und gesellschaftlicher Umbruch.

Zweitausendeins, Leipzig 2021,

720 Seiten, 29,90 Euro