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Gemeinsame Außenpolitik Europas

Die Leerstelle Amerika

Der Anschluss der Krim an Russland hat gezeigt, dass die Europäische Union gegenwärtig kaum in der Lage ist, auf eine ernste äußere Krise entschieden zu reagieren. Gleiches gilt für die Flüchtlingswelle aus Afrika oder den Bürgerkrieg in Syrien. Die Beiträge auf den folgenden Seiten widmen sich der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Sie erörtern, wie diese aussehen könnte und welche Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen. Nicht zuletzt hinterfragen sie, ob Deutschland, von dem in jüngster Zeit immer wieder Führung verlangt wird, dazu bereit ist, seine Aufgaben zu erfüllen.

Patrick Keller14.04.2014

Präsident Barack Obama hat die Vereinigten Staaten von Amerika in eine Politik des strategischen Rückzugs geführt, die für Deutschland und Europa Probleme aufwirft. Im Rückblick zeigt sich die Kontinuität seiner sicherheitspolitischen Entscheidungen: Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien und jetzt in der Krim-Krise – überall wählte Obama eine Politik des Rückzugs oder zumindest der weitgehenden Zurückhaltung. Dazu passen die Slogans, die mit Obamas Sicherheitspolitik verbunden werden: „Nation-building at home“ und „Leading from behind“.

Hinzu treten die zwei Grundsatzentscheidungen zur drastischen Senkung des Verteidigungshaushalts und zur Neuausrichtung auf Asien und den Pazifik („Pivot to Asia“). Obamas Budget-Politik wird innerhalb von fünf Jahren zu den kleinsten US-Streitkräften seit 1940 führen, einschließlich der kleinsten Luftwaffe seit Bestehen der Air Force. Das wirkt sich selbst auf den Pazifik aus, wo der vielbesprochene „Pivot to Asia“ auch in Zukunft kaum militärische Züge tragen wird. Dass die Region dennoch strategisch aufgewertet wird, ist vor allem der abnehmenden amerikanischen Präsenz in Europa und Nahost geschuldet.

Für jede einzelne dieser Entscheidungen lassen sich gute Gründe vorbringen – nicht zuletzt die Zwänge der US-Haushaltskrise. In der Summe sind sie jedoch problematisch, weil sie Ansehen und Durchsetzungsfähigkeit der Weltordnungsmacht USA untergraben und die Glaubwürdigkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien in Zweifel ziehen.

Das unterscheidet Obama von historischen Vorbildern wie Richard Nixon. Auch der hat auf die unter seinem Vorgänger erfolgte militärische Überdehnung mit Selbstbeschränkung und Rückzug reagiert. Aber Nixon hat parallel dazu, vor allem durch die Öffnung gegenüber China, eine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen, welche das Gesicht der Ordnungsmacht USA gewahrt und ihr im zentralen Konflikt der Zeit – gegenüber der Sowjetunion – Handlungsspielräume und zusätzliche Stärke verschafft hat.

Nicht so Obama. Sein Rückzug hinterlässt eine Leerstelle, die nicht kompensiert wird. Eine Folge davon ist, dass autoritäre Regime in Russland und China, aber auch Friedensstörer unterhalb des Großmachtsrangs wie Syriens Präsident Baschar Assad, sich zur brutalen Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ermuntert fühlen.

Das stellt Deutschland und die Europäische Union vor eine besondere Herausforderung. Denn eine weitere Konsequenz des amerikanischen Rückzugs ist, dass wir in Zukunft mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen. Das betrifft vor allem die Stabilisierung der europäischen Peripherie. Zugleich zeigen die Erfahrungen in Libyen und Syrien, dass Europa als sicherheitspolitischer Akteur nicht effizient und gefestigt genug ist, diese Aufgabe allein zu bewältigen. Das gilt insbesondere dann, wenn andere Großmächte involviert sind, wie zuletzt Russland auf der Krim.

Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass die Welt unsicherer wird. Die heraufziehende multipolare Ordnung – mit anti-westlichen Machtzentren und einigen leeren Flecken der Anarchie – wird noch dazu führen, dass sich so mancher Europäer nach der amerikanischen Dominanz der vergangenen zwanzig Jahre zurücksehnt. Die bequeme Zeit des „free-riding“, als Europa die Kosten für seine Sicherheit auf das Pentagon abgewälzt und stattdessen seine Sozialhaushalte ausgebaut hat, ist vorbei. Gegenwärtig kommen die USA beispielsweise für etwa 75 Prozent des NATO-Budgets auf – im Kalten Krieg waren es noch 50 Prozent. Zurecht warnte Robert Gates bei seiner letzten Reise im Amt als US-Verteidigungsminister die europäischen Verbündeten, dass dies für zukünftige amerikanische Generationen kein tragfähiges Modell sein könne.

Neue Eigenverantwortung

Europa muss also international jenseits der Wirtschafts- und Handelspolitik mehr Präsenz zeigen und stärker selbst für seine Interessen, Werte und Ordnungsvorstellungen eintreten. Dieser Appell richtet sich in besonderem Maße an Deutschland, dem aufgrund seiner Bevölkerungsgröße, wirtschaftlichen Stärke und geographischen Lage eine Führungsrolle in Europa zukommt. Zudem profitiert Deutschland als Exportnation in besonderem Maße von einem liberalen und stabilen internationalen Umfeld, zu dessen Erhalt es in den vergangenen Jahrzehnten sowohl militärisch als auch politisch vergleichsweise wenig beigetragen hat. Bundespräsident Joachim Gauck weist daher in die richtige Richtung, wenn er sein Land auffordert, international mehr Verantwortung zu übernehmen.

Das erfordert jedoch politische Führung, strategisches Denken und neue Prioritäten, zum Beispiel beim Verteidigungshaushalt, der in den letzten zwanzig Jahren nicht einmal genügend angestiegen ist, um den Inflationseffekt auszugleichen. Offenkundig ist das alles unpopulär und unbequem – und daher eine umso größere politische Aufgabe. Sie muss aber dringend angegangen werden, um auch in der nächsten Generation unsere Freiheit, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu bewahren.
Patrick Keller
Dr. Patrick Keller ist Referatsleiter Reden und Texte im Bundesministerium der Verteidigung in Berlin. Zuvor war er von 2008 bis Mitte 2018 Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung.