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Die Mauer als deutscher und europäischer erinnerungsort

Eine globale (Gegen)Ikone

Etienne François28.06.2011

Kaum ein anderer Bau der jüngsten deutschen Vergangenheit war so verhasst wie die Berliner Mauer (vor allem vonseiten der Ostberliner und der Bürger der DDR – im Westen hatten sich viele mit ihr abgefunden). Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie gleich nach ihrer überraschenden Öffnung sofort und spontan von Tausenden von „Mauerspechten“ angegriffen wurde, und zwar mit einer Wucht, die in ihrer (allerdings friedlichen) Radikalität an die rituellen Leichenschändungen von gestürzten und verhassten Tyrannen oder Diktatoren erinnert (so wurde zum Beispiel mit den Leichen von Mussolini und seiner Geliebten Maria Petacci nach ihrer Hinrichtung in Giuliano di Mezzegra am 28. April 1945 und einige Jahre später in Budapest mit den Leichen der kommunistischen Geheimpolizisten zu Beginn des Aufstands von 1956 umgegangen). Diese Form des „wilden“ Exorzismus dauerte allerdings nicht lange. Die DDR-Behörden nahmen schnell den Abbau der Mauer unter ihre eigene Regie und führten ihn mit der gleichen Gründlichkeit wie ihren Bau 28 Jahre zuvor aus, sodass bald nur noch 1,5 von den ursprünglichen 205 Kilometern übrig blieben. Wie die Pariser Bastille nach ihrer Erstürmung am 14. Juli 1789, so wurde die Berliner Mauer so gut wie total abgetragen. Sie verschwand aus dem Stadtbild, und bald wusste man nicht mehr genau, wo sie zwischen 1961 und 1989 verlief.

Weiterleben eines verschwundenen Bauwerks

Weit entfernt davon, zu einem Vergessen zu führen, trug paradoxerweise das Verschwinden der Mauer zu ihrem Weiterleben bei, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland. Dieses Weiterleben war zuerst materiell: Die staatliche Außenhandelsfirma Limex-Bau Export-Import machte aus den Mauerresten den „größten Exportschlager“ (Edgar Wolfrum) der noch bestehenden DDR, und da die Nachfrage kontinuierlich stieg, verkaufte man sie weltweit zu immer höheren Preisen. Die Mehrzahl der Mauerreste befindet sich heute in Europa, man findet sie aber auch in den Vereinigten Staaten wie in Russland, in Japan wie in Südafrika, in Guatemala wie in Indonesien. Wichtiger noch wurde das immaterielle Weiterleben der Mauer, entwickelte sie sich doch zur Chiffre für die diktatorische Dimension des Sozialismus wie auch für ihr Scheitern. Da sie nicht mehr existierte, konnte sie zu einem Symbol des untergegangenen Regimes, ja zu einem regelrechten Mythos werden. Die nach Berlin strömenden Touristen begnügten sich nicht mehr damit, das seit 1963 bestehende Mauermuseum am Checkpoint Charlie zu besuchen: Sie wollten die Mauer konkret erleben und ihren Verlauf durch die Stadt wiederfinden – daher die Anbringung von sichtbaren Zeichen in den Straßenbelag, die ihren Verlauf materialisieren, daher die künstliche Rekonstruktion des Checkpoint Charlie mit Sandsäcken und großen Bildern von einfachen Soldaten der vier Alliierten, daher die vielen Straßenhändler, die im Zentrum der Stadt Mauerstücke und Devotionalien aus dem untergegangenen Staat verkaufen, daher schließlich die Errichtung einer „Gedenkstätte Berliner Mauer“ als zentralen Erinnerungsort an die deutsche Teilung.

Kanonisierte Bilder

Zwei Elemente spielten beim Weiterleben, ja besser gesagt beim neuen Leben der Mauer in den Vorstellungen eine zentrale Rolle. Es handelt sich zuerst um die kanonisierten Bilder, die automatisch mit der Mauer verbunden werden und überall in allen Variationen zu finden sind – das Bild des Soldaten der NVA, der über einen Stacheldraht springt, das Bild der durch Uniformierte der Arbeiterbrigaden kontrollierten Soldaten, die vor dem Brandenburger Tor die Mauer errichten, das Bild des sterbenden Peter Fechter, aber auch das Bild der auf der Mauer tanzenden Jugendlichen, das Bild des Ansturms der Ostberliner an der Bornholmer Straße, das Bild des vor der Mauer spielenden Cellisten Mstislaw Rostropowitschs. Es handelt sich weiterhin um die kurz vor dem Fall der Mauer oder in den Jahren danach gedrehten Filme „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders (1987), „Good By, Lenin“ von Wolfgang Becker (2003) und „Das Leben der Anderen“ von Florian Henkel von Donnersmarck (2006), die alle drei bis heute zu den größten Erfolgen des deutschen Kinos im In- wie im Ausland zählen. So zeigte eine im Frühling 2011 durch das Goethe-Institut in 18 europäischen Ländern durchgeführte Online-Befragung, dass diese drei Filme in allen Ländern übereinstimmend zu den drei erstplatzierten Filmen gehören. Das Weiterleben der Mauer in den Köpfen und Vorstellungen, als Bild und als Symbol, führte darüber hinaus dazu, dass ihre imaginäre Bedeutung immer größer wurde, bis sie bald zum symbolischen Inbegriff der DDR, des Kommunismus und seines Zusammenbruchs wurde. Bei der erwähnten Online Befragung antworteten die circa 13.000 Europäer, die sich daran beteiligten, der Fall der Mauer sei für sie das „bedeutendste Ereignis, das sie mit Deutschland verbinden“. Dabei spielte die Zugehörigkeit zu West- und Osteuropa so gut wie keine Rolle, mit nur zwei Ausnahmen: Ungarn und Tschechien, wo der Zweite Weltkrieg an erster Stelle und der Fall der Mauer erst an zweiter Stelle stand. Diese symbolische Aufwertung geschah allerdings auf Kosten der historischen Realitäten: Für die meisten Menschen heute (vor allem im Ausland) wird die Berliner Mauer mit der ganzen innerdeutschen Grenze gleichgesetzt; man geht davon aus, wie das zum Beispiel auf den Tafeln zu lesen ist, die entlang den Autobahnen von und nach Berlin errichtet wurden, dass sie zwischen 1945 und 1990 bestand – und vergisst dabei, dass die innerdeutsche Grenze erst 1952 und die eigentliche Mauer erst 1961 abgeriegelt wurde. Die Bilder, die auf diesen Tafeln angebracht wurden, sind die der Mauer mit Betonplatten und Wachtürmen – auch an der innerdeutschen Grenze, wo sie bekanntlich anders aussah. Implizit gibt man zu verstehen, dass die Mauer wie auch die deutsche Teilung ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs waren, und vergisst dabei, dass sie vielmehr ein Ergebnis des Kalten Krieges gewesen sind, und dass die westlichen Alliierten den Bau der Mauer mit Erleichterung wahrnahmen. Wie selbstverständlich schließlich tut man, als ob der Fall der Berliner Mauer mit dem Ende der Teilung Europas und mit der deutschen Wiedervereinigung identisch wäre, und vergisst dabei den polnischen „Runden Tisch“ (6. Februar bis 5. April 1989) und die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 11. September 1989 auf die gleiche Art und Weise; wie man auch vergisst, dass am 9. November 1989 die erst ein Jahr später vollzogene Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung stand. Aber die Verschmelzung der beiden Ereignisse ist inzwischen in den Vorstellungen so perfekt, dass sie austauschbar und untrennbar geworden sind, wie man es zum Beispiel an der erwähnten Online-Befragung feststellen kann, wo der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung immer zusammen in einem Atemzug erwähnt werden.

Symbolische Aufwertung

Mit ihrem Übergang in den Bereich der Erinnerungen, der Bilder und der Vorstellungen erlebte die Berliner Mauer einen grundsätzlichen Wandel. Das Ende ihrer materiellen Realität ging mit einer symbolischen Aufwertung zusammen, die an die berühmte „List der Geschichte“ von Hegel erinnert. Gleichzeitig dämonisiert und verklärt, ist sie heutzutage im In- und Ausland zu einer Ikone und einer Gegenikone der europäischen und Weltgeschichte geworden. Als innerdeutsche und innereuropäische Grenze ist sie restlos verschwunden, und man kann sich nur darüber freuen. Die Beispiele der innerkoreanischen Mauer wie auch die der Mauer zwischen Israel und Palästina bzw. zwischen den beiden Teilen Zyperns – von der amerikanisch-mexikanischen Grenze und der immer mehr hermetisch und tödlich gewordenen außereuropäischen Grenze nicht zu sprechen – sind aber leider da. Dies nur zur Erinnerung daran, dass die Mauer als Realität nichts an Aktualität verloren hat.

Etienne François
Professor Dr. Etienne François ist der Begründer des Centre Marc Bloch in Berlin und war bis zu seiner Emeritierung 2008 Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut und am Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin. Zusammen mit Mit Uwe Puschner ist François Herausgeber von: "Erinnerungstage – Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart". (C.H. Beck 2010). www.cmb.hu-berlin.de

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