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Titelthema

Eine Partei ohne sinnstiftende Idee

Jenseits der Tagespolitik hat die Christdemokratie in Deutschland ein strukturelles Problem. Volkspartei ist sie nur noch bei Rentnern und Pensionären.

Franz Walter01.11.2017

Das Jahr 1957 galt Zeitgenossen und Historikern lange als ein Katastrophenjahr der bundesdeutschen Sozialdemokraten. Sie hatten bei der Bundestagswahl in jenem Jahr 31,8 Prozent der Stimmen erhalten, was alle, ob nun Freund oder Feind der SPD, unisono als ein höchst deprimierendes Wahlergebnis werteten. Von da an ertönte in den Reihen der Genossen bis in die 1960er Jahre hinein die Parole, doch endlich von einer engen  Klassenpartei, eingesperrt im 30-Prozent Turm, zu einer offenen und weiten Volkspartei zu werden – nach dem damals beneideten Vorbild der CDU.
Wenn eine Partei, die Ende der 1950er Jahre bei weit höherer Wahlbeteiligung auf knapp 32 Prozent der Stimmen kam, seinerzeit weit entfernt vom Status und Gütesiegel einer „Volkspartei“ war, dann lässt sich eine Partei, die sich 2017 mit 32,9 Prozent der Voten begnügen muss, schwerlich problemlos noch als Volkspartei kennzeichnen. Wir reden, natürlich, von der CDU/CSU. Bei den männlichen Wählern unter 60 Jahren blieb die Christliche Union am 24. September 2017 unterhalb der 30-Prozent-Marge, bei den 18–34 Jährigen bekannten sich nicht einmal ein Viertel der Wähler dieser Kohorte für die Formation von Angela Merkel. Über 40 Prozent der Stimmen, was gemeinhin als Zielvorgabe für Volksparteien gilt, erzielten CDU/CSU – bei den Landtagswahlen in Niedersachsen drei Wochen später waren die Zahlen ähnlich –, demographisch gesehen allein bei den über 60-jährigen Frauen und, unter erwerbssoziologischen Gesichtspunkten betrachtet, in der Gruppe der Rentner. Bei den beruflich aktiven Schichten und Jahrgängen ist die Union hingegen weit vom Typus einer Volkspartei entfernt. Besonders schlecht schneidet die Partei bei den zentralen Akteuren der Wissens- und Digitalgesellschaft mit Abitur und Hochschulabschluss ab. Gewiss war der elementare elektorale Bezug der Union auf Wähler, die in großer Zahl von sozialstaatlich geregelten Transfers lebten, bereits in den letzen Jahren eine entscheidende Barriere für die vor 15 Jahren noch lautstark verkündeten, in der Regierungspraxis jedoch stillschweigend einkassierten „schmerzhaften Marktreformen“.
Die CDU/CSU also ist lediglich noch eine Volkspartei der Rentner und Pensionäre, zugespitzt: der früheren Zugehörigen einer überwiegend gestrigen Arbeitswelt. Eben das wirft unmittelbar die Frage auf: Wie lange noch? Und was heißt das für die weitere Zukunft der christlichen Union? Dass es im bisherigen Trott jedenfalls nicht auf Dauer gut gehen dürfte, darauf weist schon der Befund über die Saldo-Verluste/-Gewinne bei den Bundestagswahlen hin, da die Partei durch den Generationenwechsel über 800.000 Wähler verloren hat, was prosaisch bedeutet: Es sterben (und dies seit einigen Bundestagswahlen schon) erheblich mehr Wähler weg als durch das erstmalige Wahlrecht junger Bürger hinzukommen. Auch nach den Landtagswahlen in Niedersachsen am 15. Oktober gaben die Wahlforscher kund, dass etwa zehn Prozent der CDU-Wähler von 2013 bis 2017 verstorben waren.

Die Spaltung der Bürgerlichkeit
Dass die Union mittlerweile die Partei der Rentner und (formal) Niedriggebildeten geworden ist, hat mit einem gravierenden Verlust der einst unbestrittenen bürgerlichen Leitposition in Politik und Gesellschaft zu tun. Begonnen hat dieser Prozess der Transformation von Bürgerlichkeit bereits in den späten 1960er/frühen 1970er Jahren. Bis dahin war die christdemokratische Union eine bemerkenswert weit gefasste und höchst erfolgreiche soziale Allianz, die sich ganz betont in der „Mitte“ der Gesellschaft platzierte. Diese Allianz blieb beisammen, da sich alle Segmente zustimmend in einem Set von Wertewelten wiederfanden: Religion, Familie, Fleiß, Ordnung, Staatstreue, Heimat etc.
Die Werterebellion der 1960er/70er Jahre, welche aus dem akademischen Nachwuchs der bildungsbürgerlichen Mitte hervorging, nagte an diesem Bestand, unterspülte ihn schließlich im Laufe der folgenden Jahrzehnte. Die neuen Jahrgänge in der Schicht der „Gebildeten“ siedelten sich – erstmals im 19. und 20. Jahrhundert – damals überwiegend im linken Spektrum an, orientierten sich dann ab 1980 zunehmend an den Grünen. Das markierte den ersten Riss im bürgerlichen Lager.
Ein Jahrzehnt später verabschiedeten sich auch die hochagilen, oft nun religions-, heimat- und familienlosen jungen Wirtschaftsbürger von den eher traditionalistischen, frommen, ehetreuen, sesshaften „Kleinbürgern“ älterer Facon. So spaltet sich das bürgerliche Lager auf, nach Generationen, Lebensstilen, Wertvorstellungen. Eine weitere Dekade später kristallisierten sich (europaweit) im rechten Spektrum einer neuen Wutbürgerlichkeit politische Formationen des Protests mit neonationalen Einstellungen heraus.
Das wirkt auf die Politik der Union zurück, der es mehr und mehr misslang, einen Wertebogen vom klassischen Sozialkatholizismus ihres Kolping-Milieus über die Deutschnationalität älterer Semester bis hin zum betriebsamen, global changierenden Individualbürgertum der jungen Generation zu schlagen. Und mittlerweile steht der moderne bürgerliche Nachwuchs keineswegs mehr in den Büros der Kreisverbände der Christdemokratischen Union Schlange, um die Mitgliedschaft in der Partei zu erwerben. Er hat dafür schlicht auch gar keine Zeit mehr.
Denn an die Spitze des christdemokratischen Ortsverbands kommt im Wesentlichen der Local Hero, der ständig anzutreffen, in seiner Stadt allzeit präsent ist. Nur denkbar wenige  ehrgeizige CDU-Nachwuchspolitiker waren und sind bereit, etwa die Heimatuniversität auch nur für ein Semester zu verlassen, weil man nach habjährlicher Absenz sich der mühsam zusammengestellten innerparteilichen Hausmacht nicht mehr gewiss sein kann.
Wer in der CDU Erfolge erzielen will, der kann im außerpolitischen Beruf nicht rund um die Uhr gefordert sein. Denn verfügbare Zeit ist für Politiker seit eh und je eine entscheidende Quelle von Einfluss- und Machtbildung. Der CDU-Aktivist, der es weit bringen will, benötigt Zeit für den Info-Tisch, für die Ortsverbandsversammlungen, die Stadtratssitzung, die zahlreichen Kungelrunden und Kommissionen, für Schützenfeste und Wanderungen mit dem Heimatverein. Jungen Wirtschaftsbürgern fehlt es vielfach an einem solchen üppigen Zeitbudget. Sie pendeln zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ mit dem ICE oder dem Flieger, wenn der christdemokratische Ortsverband die Delegiertenlisten für den nächsten Kreisparteitag präpariert und schließlich zum gemütlichen Bier, Körnchen oder Viertele übergeht. Dadurch aber hat die Politik der CDU an Vertäuungen eingebüßt, an Flechtwerken und Erfahrungsorten in Gesellschaft und Wirtschaft. Bürgerliche Politiker bekommen so ihre zunehmende Einsamkeit zu spüren, ihre Beschränkung allein auf den politischen Raum, auf Parteibüros, Abgeordnetenräume, Fraktionssäle.
Das vielzitierte junge und mobile Wirtschaftsbürgertum löste sich seit Jahren schon sukzessive aus dem sehr viel sesshafteren politischen Parteienbetrieb. Wirtschaftsbürger hier und bürgerliche Politiker dort bewegen sich, stärker zumindest als in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik, mittlerweile in unterschiedlichen Sphären. Über Jahrzehnte waren die Berührungen im Alltag vielfältig. Man begegnete sich in den gleichen Vereinen, teilte gemeinsame Geselligkeiten, verschränkte sich zwecks Optimierung der eigenen Karriereaussichten miteinander. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft lohnen, in der CDU/CSU zumindest maßvoll aktiv zu sein. Das ist gegenwärtig längst nicht mehr im gleichen Maße sinnvoll.

Programmatische Ratlosigkeit
Die CDU steckt offensichtlich in einer Zwickmühle. Sie beschwört in ihren Sonntagsreden vor den Getreuen die christlichen Maßstäbe. Doch pflegt sie es in der Ära Merkel damit keinesfalls zu übertreiben; schließlich weisen ihre Anführerinnen mahnend auf die modernen und säkularisierten Lebenswelten junger und mittelalter Bildungsbürger und vor allem -bürgerinnen hin, die man als zeitgemäße Volkspartei des 21. Jahrhundert mit pastoralen Formeln nicht mehr erreiche. Kurzum: Die Partei muss das „C“ rhetorisch an den Festtagen und nach innen gerichtet weiterhin im Munde führen, denn es bindet die treuesten Wähler, über die sie noch verfügt. Zugleich trennt das „C“ die Union von den säkularisierten Lebensmilieus; seien diese nun liberal oder libertär oder auch völkisch-identitär. Ersatz oder eine Neudefinition des „C“ besitzt die Christdemokratie indes nicht, die dadurch ähnlich spirituell leer wirkt wie die andere, zuvor bereits verschlissene Ex-Volkspartei.
Die Merkel-Liberalisierung der Partei mochte unumgänglich gewesen sein. Doch sie hat unzweifelhaft zu einer spirituellen Leere geführt. In der gegenwärtigen CDU herrscht normativ gewissermaßen eine Brunch-Mentalität: Jeder schnappt sich, ganz individuell, vom Buffet, wonach ihm gerade ist. Beim nächstenmal kann man, jeder für sich, das Sortiment anders zusammenstellen. Angesichts der so entstandenen normativen Heterogenitäten aber scheut die CDU entscheidungsorientierte Diskussionen über die konstitutiven und hochumstrittenen Wertefragen von Politik und Gesellschaft. Sie fürchtet die Sprengkraft, wenn sich Konservative und Liberale, Traditionalisten und Modernisierer, Globalisierer und Heimatmenschen, Verlierer und Gewinner im Klein- und Großbürgertum über Normen und Ethiken des künftigen Zusammenlebens, also gleichsam auf ein gemeinsames Sinnmenü, einigen müssten.
Daher findet nie eine ernsthafte Debatte statt. Dergleichen wird sofort drastisch gestoppt und unterbunden. Streit, so die eiserne und bedauerlicherweise nicht rundum abwegige Organisationsregel der Union, komme beim Wähler schlecht an. Im gültigen Grundsatzprogramm der CDU (verabschiedet in Hannover 2007) ist in erster Linie festgehalten, was ihre Mitglieder und Anhänger im vorangegangenen Jahrzehnt – vor allem in der Familien- und Erziehungspolitik – hinzugelernt, zumindest als unabänderlich mehr oder weniger fatalistisch hingenommen haben. Aber ein neuer Gedanke, eine bislang unbekannte Idee über eine wünschenswerte Gesellschaft von autonomen Individuen und bergenden Gemeinschaften, von intakter Staatlichkeit auch in transnationalen Geflechten, subsidiärer Zivilgesellschaftlichkeit und freiheitlichem Personalismus gelangte in der Merkel-CDU nicht in den Diskurs.
So weiß man mittlerweile nicht mehr so recht, was denn eigentlich die Ordnung stiftende Idee der Partei ist. Und schnell schließt sich dann die Frage an, warum man überhaupt für die CDU in die Auseinandersetzung ziehen sollte. In solcher Phase des Verschwiemelns  der rhetorisch gern zelebrierten „Inhalte“ wächst ganz nach dem Prinzip kommunizierender Röhren regelmäßig der Bedarf nach größerer Eindeutigkeit.
Gerade in schwierigen Zeiten der haltlosen Unübersichtlichkeit haben von Desintegrationen irritierte oder gar verängstigte Menschen Sehnsucht nach Orientierung und Kohäsion, nach dem Kitt und der Wärme homogener Vergemeinschaftungen. Das ist dann aber nicht mehr unbedingt die Stunde jener früheren, nunmehr vielfach entkernten Volksparteien, sondern häufig von neuen Sammlungsparteien des Protests. Die Sammlung erfolgt allerdings nicht ausgleichend-moderierend, sondern heftig polarisierend gegen das „Andere“ und „Fremde“. Eben dies erleben wir nun auch in Deutschland seit dem Sommer 2015. Doch die Union – allerdings bekanntlich nicht nur sie – traf es unvorbereitet.
Die Christdemokraten in Deutschland  stehen in dieser Situation unverkennbar ohne ein plausibles oder gar begeisterndes Modell an. Mit Pathos formuliert: Die Christdemokraten in Deutschland haben kein Kanaan mehr, wohin sie ihre Anhänger führen könnten. Ihnen fehlt ein einleuchtendes Paradigma, den klassischen katholischen Solidarismus und die säkularisierten Individual-Mentalitäten, die kosmopolitischen Lebensrealitäten einiger (und sich mehrender Jungbürger) mit den Beheimatungsbedürfnissen nicht ganz weniger zur Synthese zu verknüpfen. So mangelt es an überzeugenden Narrativen, an einem „Lebensinhalt“, wie es Konrad Adenauer einst nannte. Aber wer braucht schon Formationen ohne Lebensinhalt, ohne plausible Erzählung, ohne ein Bild über das Wohin?

Die Kultur der Winzer als Vorbild?
Dass es indes nicht völlig unmöglich ist, aus der eigenen Vergangenheit mit durchaus modernisierungskritischen Tönen ein zukunftsträchtiges, gewinnbringendes Modell zu schaffen, haben dabei gerade frühere Stammwähler der Union in lang überlieferten Zentren der katholisch- christlichen Demokratie seit einiger Zeit bereits bewiesen: die Winzer in Baden, im Rheinland, an der Mosel. In diesen Gegenden bekam die Union in ihren guten Zeiten weithin über sechzig Prozent der Stimmen. Doch vollzog sich auch in diesen Regionen im Laufe der 1970er/80er Jahre ein Generations- und Einstellungswandel. Eine neue Kohorte von Winzern löste sich von der schonungslosen Mengenproduktion der Väter, die in der christdemokratisch begründeten Wohlstandsgesellschaft der 1960er Jahre mit üppiger Flächennutzung pappig-süßliche Massenerzeugnisse für eine gewachsene Konsumentenschaft boten. Aber so kam der Wein (nicht nur) bei Connaisseuren in Verruf. Die ökologischen Schäden wurden ruchbar. Jungwinzer erinnerten sich nun an die Traditionen der Groß- und Urgroßeltern. Und sie änderten Zug um Zug die „Philosophie“. Alle Weingüter, die etwas auf sich und ihre Qualität halten, beginnen heute ihre Selbstdarstellung, ob im Print-Prospekt oder beim Internetauftritt, mit der Präsentation ihrer „Philosophie“. Und immer wird die „Tradition“ großgeschrieben, der behutsame, sorgsame Umgang mit der Natur betont, auf gebietstypische Pflege der Reben hingewiesen, die Geschichte der heimatlichen Böden, Kirchen und Kulturen stolz in Erinnerung gerufen. Und zugleich achtet man darauf, die Tradition mit der eigenen Fortschrittlichkeit eng zu verknüpfen, das eine aus dem anderen herzuleiten.
Im Grunde haben die Winzer vorgemacht, was der CDU ebenfalls hätte gelingen können, was sie aber geradezu ignorant versäumt hat: Ökologie, Regionalkultur, Geschichte und darin eingebundene Innovationsfreude durchaus eigensinniger wie experimentierfreudiger Winzerfamilien als konservativen Erzählstrang aufzunehmen und in eine mineralisch frische Überzeugungssprache zu überführen.