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Titelthema

Erde, Licht und Wasser

Titelthema - Erde, Licht und Wasser
Fenchel © Lynn Karlin

Wenn der Mensch seine Abhängigkeit von der Natur technisch überwinden und kulturell verdrängen will, muss er scheitern. Eine umweltethische Perspektive auf Erntedank.

Andreas Hetzel01.10.2023

Erntedank droht aus unseren Kalendern ebenso zu verschwinden wie aus unserem kulturellen Gedächtnis. Gegenüber Mutter Erde fühlen sich moderne westliche Menschen nicht länger verpflichtet. Diese Indifferenz ist dabei sicher nicht nur ein Symptom, sondern eine wesentliche Ursache der aktuellen ökologischen Krisen. Eine Rückbesinnung auf die Haltung, die sich in Erntedank-Traditionen ausdrückt, wäre umweltethisch sehr vielversprechend. Eine solche Rückbesinnung müsste eher die Gestalt einer Neuerfindung säkularer Formen des Erntedanks annehmen. Sie könnte uns vor Augen führen, dass sich alles, was uns Menschen ausmacht, unsere Sprache und unsere Kultur, unsere Rationalität und selbst unsere Fähigkeit, verantwortlich zu handeln, nicht selbst genügt und trägt, nichts selbst hervorbringen kann. Menschen sind und bleiben Wesen, die zunächst essen und trinken, einatmen und ausatmen, die eingebunden bleiben in ein Netz des Lebens, das ihnen vorausgeht, dessen Regenerationsfähigkeit begrenzt ist und das sie heute maßlos überbeanspruchen.

Unser Leben ist unterstützungsbedürftig und verletzlich. Als verletztlich erfahren wir uns unter Bedingungen des Anthropozäns nicht nur selbst, Vulnerabilität erkennen wir vielmehr zunehmend als Signum allen Lebens. Wenn menschliches Leben eine Zukunft haben soll, dann nur mit neuer Einstellung zum nicht menschlichen Leben. Erntedankfeste können uns die Schönheit, Fülle und Produktivität dieses nicht menschlichen Lebens neu vergegenwärtigen, uns also dabei helfen, es wieder zu achten.

Natur als Besitz, ohne Eigenwert

Mit dem Verdrängen des Erntedanks korrespondiert eine sich mit der Neuzeit ausbildende Formation der Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit des Menschen. In die aktuellen ökologischen Krisen, die globale Erwärmung und das Massenaussterben von Arten, haben uns weniger bewusste politische Entscheidungen geführt, als Skaleneffekte von individuellen Lebensformen und Haltungen. Natur kommt im Rahmen dieser Haltungen nur noch als potenzieller Sachbesitz und auszubeutende Ressource in den Blick. Sie hat jeden Eigenwert verloren. Das nicht menschliche Leben in seiner unendlichen Vielfalt, das die Evolution in Jahrmilliarden hervorgebracht hat, vernichten wir, erdgeschichtlich gesehen, in einem Wimpernschlag. Wir opfern die Biosphäre einer unnachhaltigen und konsumistischen Lebensweise, die sich ihrer eigenen Voraussetzungen nicht länger bewusst sein will.

Vorindustrielle Kulturen als Vorbilder?

Eine Haltung der Achtung gegenüber Mutter Erde einzunehmen würde einen Einspruch gegen diese Lebensweise formulieren. Sie würde vor allem bedeuten, eine Asymmetrie im Verhältnis zwischen Mensch und Erde zu akzeptieren, ein Abhängigsein des menschlichen vom nicht menschlichen Leben. Den Angehörigen vormoderner Kulturen war diese Abhängigkeit bewusst. Sie haben sich der Natur gegenüber in Riten und Festen dankbar gezeigt. So lassen sich die spätsteinzeitlichen Höhlenbilder, wie wir sie etwa aus Lascaux kennen, anthropologisch als Versuche einer Rückerstattung deuten. Die Bilder zeigen das Wild, das mithilfe von Speer und Bogen gejagt wurde. Unsere Vorfahren lassen in diesen Bildern das, was sie der Natur entnommen haben, symbolisch wiederauferstehen. Sie versuchen, eine Kontinuität mit der Natur, die sie durch die Tötung einzelner Tiere unterbrochen haben, neu herzustellen. Vielleicht ist diese Geste des Dankens der Ursprung des Symbolischen und damit des Menschlichen überhaupt, eines Symbolischen, das mir erlaubt, vom Hier und Jetzt meiner eigenen Perspektive abzusehen und die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen.

Natürlich ist es gefährlich, vormoderne Kulturen und ihre Rationalitätsformen pauschal zu idyllisieren. Zugleich sollten wir aber nichts unversucht lassen, um das von ihnen zu lernen, was sich menscheitsgeschichtlich bewährt hat. In Afrika und Australien lebten Menschen über Zehntausende von Jahren in einem respektvollen Austausch mit ihren Umwelten. Sie haben diese Umwelten verändert, allerdings nie in einer Weise, die zu so katastrophischen Einbrüchen der gesamten Fülle des Lebens geführt hätte, wie wir sie heute verzeichnen können. Sie sind Vorbilder dafür, wie sich konviviale und nachhaltige Formen von Arbeit, Technik und Landwirtschaft etablieren lassen, wie globale Stoff- und Energiekreisläufe entschleunigt werden könnten.

Auch die ältesten überlieferten Ethiken des Abendlandes rufen uns eine Haltung des Erntedanks ins Gedächtnis. Diese Ethiken fordern uns dazu auf, unseren Platz in der Natur zu suchen. So lautet die entscheidende Maxime, die Hesiod etwa 700 Jahre vor unserer Zeit formuliert, dass wir alles, was wir tun, zur rechten Zeit tun sollten. Was die rechte Zeit ist, wird uns, so die Botschaft seines Lehrgedichts Werke und Tage, von den Rhythmen der Jahreszeiten und Zyklen der Natur vorgegeben. So sollten wir etwa mit dem Pflügen dann beginnen, wenn wir „des Kranichs Stimme gehört“ haben, wenn also die Zugvögel aus ihren Winterquartieren zurückkehren und den Frühling ankündigen. Der Bauer fühlt sich in Hesiods Darstellung nicht als Besitzer des Landes, sondern als sein Bewohner, er teilt es mit anderen Menschen wie mit nicht menschlichen Wesen. Wenn Hesiod dazu ermahnt, „Werke auf Werke zu wirken“, dann fordert er damit zu keiner Aneignung oder Ausbeutung des Bodens auf. Er denkt an ein Kultivieren, das die Natur in ihrer Fruchtbarkeit unterstützt und ihr erlaubt, sich wiederherzustellen. Arbeit dient hier nicht, wie in der Neuzeit, der Selbsterhaltung des arbeitenden Subjekts und dem Erzeugen von Reichtum. Der Bauer soll vielmehr arbeiten, „bis wieder die Erde, sie, die Mutter von allem, die Fülle der Früchte hervorbringt“, und sich dann dafür dankbar zeigen, im Feiern von Erntefesten.

Der Mensch als Teil der Natur

Auch die spätantike Philosophie der Stoa ruft uns dazu auf, im Einklang mit der Natur zu leben. Sie formuliert dabei eine explizit ökologische Ethik. So beschreibt der römische Philosophen-Kaiser Marc Aurel die Natur als eine „unaufhörliche Flut von Veränderungen“, in der „alles miteinander verflochten und die Verknüpfung heilig ist“. Dem Menschen komme hier keine Sonderrolle zu, außer der einzigen, dass er über die Fähigkeit verfügt, sich selbst als Teil des großen Zusammenhangs zu sehen, der ihn trägt und demgegenüber er sich dankbar zeigen sollte: So wie „die Olive die Erde preist, die sie hervorbrachte, und dem Baum dankt, der sie wachsen ließ“, so sollten auch wir der Natur danken, dass sie uns hervorgebracht hat und nährt. Diese Natur ist eine Natur der „Elemente“, die nicht als chemische Substanzen gedacht wurden, sondern als Prinzipien, die sich mit dem Leben durchdringen. So ist Luft vor allem die Luft, die Lebewesen atmen können, das Wasser stillt unseren Durst, die Erde trägt uns und lässt all das wachsen, was uns ernährt, das Feuer schließlich wärmt uns und verwandelt ungenießbare Produkte in köstliche Nahrung. Die Elemente sind also „vital“, sie sind das, worauf menschliches Leben in seiner Vulnerabilität und Unterstützungsbedürftigkeit angewiesen bleibt.

Verzicht üben, Erntedank feiern

Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess, auf den wir in Europa so stolz sind, ist ein groß angelegter Versuch, unsere Abhängigkeit von der Natur technisch zu überwinden und kulturell zu verdrängen. Menschliche Lebensformen waren allerdings niemals autark und werden es niemals sein können. Alle kulturellen und technischen Fortschritte in der Geschichte des Abendlandes verdanken sich der Ausbeutung von in endlichen Kohlenstoffdepots gebundenen Energien, die wiederum auf die Produktivität von Ökosystemen zurückgehen: zunächst der in Böden gebundenen Kohlenstoffe durch den Ackerbau, dann des in Wäldern fixierten Kohlenstoffs durch die Nutzung von Holz, schließlich des in Kohle, Öl und Erdgas verdichteten fossilen Kohlenstoffs durch die neuzeitlichen Industrien. Unsere Gesellschaften hängen damit bis heute von der Fähigkeit von Ökosystemen ab, atmosphärisches CO₂ mittels Fotosynthese zu binden. Die diesbezügliche Produktivität und optimale Funktionalität, etwa der tropischen Regenwälder, können wir nicht ansatzweise mit landwirtschaftlichen oder technischen Mitteln erreichen. Ganz im Gegenteil: Wir vermögen unseren extremen Energiebedarf bisher nicht nur nicht aus erneuerbaren Quellen zu decken, sondern reduzieren mit unserer Ausbeutung der fossilen Kohlenstoffdepots auch die Fähigkeit der verbleibenden Ökosysteme zu weiterer Primärproduktion. Mit der Reduktion der Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen verringern wir letztlich die Fähigkeit der Gesamtbiosphäre zur Regeneration und weiteren Produktivität. Insofern sollten wir uns für einen minimalistischeren Lebensstil einsetzen, für Postwachstumsstrategien und eine Rückkehr zu mehr Subsistenz.

Die Haltung des Dankes wäre dabei mehr als eine innere Einstellung, sie müsste praktiziert werden. Praktiziert werden könnte sie dadurch, dass wir uns auf ein lebbares Maß beschränken, uns also vor allem Verkleinern, in unserer Zahl und unseren Ansprüchen. Unsere kulturelle Fantasie sollten wir heute darauf verwenden, Formen des Verzichts zu erfinden, die zugleich als freudvoll und eröffnend erfahren werden können. Darum kann Erntedank nur ein Fest sein, ein Fest, das wir täglich vertiefen und verstetigen sollten.

Andreas Hetzel

Andreas Hetzel ist Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Sozialphilosophie, die Politische Philosophie und die Umweltethik. Im Herbst erscheint das Buch „Vielfalt achten. Eine Ethik der Biodiversität“.