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Gedanken zu einem zeitlos-wichtigen Thema

Frieden – der Vater aller Dinge

Was heißt heute „Frieden“? Wie soll er gesichert werden? Und was kann der Einzelne dazu beitragen? Anmerkungen von Bischof Franz-Josef Overbeck

Franz-Josef Overbeck12.11.2012

Der griechische Philosoph Heraklit bezeichnete den Krieg als den „Vater aller Dinge und der König aller“, da dieser „die einen (…) er zu Göttern (macht), die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien“. An dieser Deutung hat sich über Jahrhunderte hinweg nichts geändert. Die Sehnsucht der Menschen zielte freilich auf etwas anderes. Sie wollten den Frieden, denn dieser allein garantierte ihnen ein Leben in Wohlstand, äußerer und innerer Sicherheit sowie persönlicher Unversehrtheit. Insofern war und ist für die einfachen Menschen wohl eher der Frieden der Vater aller Dinge.
Wie denn der Frieden immer wieder hergestellt werden könne, ist eine uralte Menschheitsfrage. Der Friede an sich ist mehr als die Abwesenheit von Gewalt. Er ist das ausgewogene Leben der berechtigten Anliegen aller Beteiligten, immer auf dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Menschenwürde und die Menschenrechte unveräußerlich sind. Frieden ist in der Regel ein Idealzustand, der niemals erreicht wird, da es kein menschliches Leben ohne Spannungen gibt, seien sie psychischer, geistlicher, körperlicher Art. Darum ist nie nur das Erreichen des Idealzustandes, sondern immer der Mensch von großer Bedeutung, der von diesem Ziel, in Frieden zu leben, nicht ablässt.
Was aber heißt heute „Frieden“? Und wie soll er gesichert werden? Während des Kalten Krieges bestand Frieden im Wesentlichen in der Abwesenheit von Krieg. Daher sprach man auch von einem negativen Friedensbegriff. Dieser nur negativ qualifizierte Friedensbegriff wurde damals durch die atomare Abschreckung aufrechterhalten, wobei ein wesentliches Element der Verteidigungsdoktrin darin bestand, den Angreifenden darüber im Unklaren zu lassen, ab welcher Situation man zur nuklearen Option übergehen würde. Die nukleare Abschreckung war zweifellos mit gravierenden ethischen Pro­blemen behaftet. Die Kernfrage lautete damals: Darf man etwas androhen, was niemals sittlich legitim sein kann, nämlich die Zerstörung der ganzen Welt, um genau dies zu verhindern?

Problemfelder

Mit dem Ende des Kalten Krieges stellten sich auf einmal ganz andere Fragen: Darf sich Politik mit dem Ziel, Krieg nur von Fall zu verhindern, zufrieden geben? Muss sie sich nicht mit tieferen Wurzeln von Krieg und Gewalt auseinandersetzen? Wie steht es um Unterentwicklung und schreiende materielle Not, um die Unterdrückung von Freiheit, um den Mangel an Demokratie und um die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen in anderen Gegenden der Welt, von der auch wir bedroht sind? Oder den schweren Strukturdefiziten der internationalen Friedensordnung: Man denke nur an die Demokratiedefizite im UN-Sicherheitsrat. Kein afrikanischer Staat, kein Staat der unterentwickelten Welt, kein Staat mit einer dominant islamischen Bevölkerung verfügt über ein Veto-Recht im Sicherheitsrat. Weiterhin werden die Beschlüsse des Sicherheitsrates von den Partikularinteressen seiner Mitglieder bestimmt, statt vom Weltgemeinwohl. Weiterhin verfügen die UN über kein eigenes militärisches Instrumentarium, um Frieden verlässlich aufrechterhalten zu können. Immer noch gibt es zwischen den Staaten keine obligatorische Gerichtsbarkeit.
Gleichzeitig mit der Hinwendung der Politik zu einer positiven Friedenspolitik stellte sich allerdings auch die Aufgabe der Verhinderung von Kriegen anders und wesentlich verschärft. Die Staatszerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien, der Genozid in Ruanda und Burundi, in Kambodscha, die Vielzahl sich in Bürgerkriegen auflösender Staaten in Afrika, die menschenrechtsunterdrückenden Diktaturen und die dramatische Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen warfen viele Frage auf: Muss sich die Verhinderung des Krieges nicht auch auf den Bürgerkrieg und massive Menschenrechtsverletzungen erstrecken? Muss man nicht sogenannte Schurkenstaaten militärisch angreifen, bevor sich diese nuklear rüsten und zu einer unabsehbar großen Gefahr für den Frieden werden? Dürfen Staaten zum Schutz von Menschenrechten in andere Staaten notfalls auch ohne UN-Mandat intervenieren? Die Liste dieser Fragen ließe sich leicht sehr lange fortsetzen.
Krieg ist kein Schicksal der Menschheit, dem sie einfach ausgeliefert wäre. In dem Maße, in dem sich Politik an ethischen Anforderungen ausrichtet, kann sie Krieg verhindern – nicht nur von Fall zu Fall, sondern sogar strukturell durch die Errichtung einer verlässlichen Friedensordnung.

Wege zum Frieden

Der Grundgedanke des politischen Leitbildes eines „gerechten Friedens“ besteht darin, Politik an dem Ziel der Gewaltprävention, und, wo dieses versagt, der Gewaltminderung und der Gewaltüberwindung auszurichten. Diesem Ziel ist am besten gedient, wenn Politik die Achtung der Menschenwürde aller sowie den Schutz der Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt. Es kann also nicht nur um den Schutz der im Westen lebenden Menschen gehen. So kann auf die Dauer der Kampf gegen den Terrorismus nur gewonnen werden, wenn wir die Köpfe und die Herzen auch der Menschen in jenen Gesellschaften gewinnen, aus denen die Terroristen stammen und in denen sie neue Mitglieder zu rekrutieren suchen. Dies ist nur möglich, wenn Politik dem Ziel der Überwindung von Not, dem Abbau von Gewalt und der Förderung von Freiheit überall auf der Welt dient.
Insbesondere ist es wichtig, dass sich so etwas wie eine internationale Solidarität gegen Gewalterfahrung herausbildet. Hier sind nicht nur die christlichen Kirchen, sondern alle Religionen gefordert. Jede Religion hat die Pflicht gegen alle aufzutreten, die glauben, im Namen Gottes Gewalt anwenden zu dürfen. Darüber hinaus müssen die Kirchen und Religionen darauf hinwirken, dass keine verfestigten Feindbilder und antagonistischen Deutungsmuster entstehen. Derartige Muster würden es unmöglich machen, anders denn mit Gewalt und Feindschaft zu rekurrieren.
Die Frage der innerstaatlichen Sicherheitswahrung ist auch eine Frage der Solidarität. Diese verlangt, dass die Lasten der Wahrung der Sicherheit nicht auf ausgegrenzte Gruppen abgeladen werden. Was wäre die Gesellschaft in unserem Land, wenn es nicht die Hoffnung gäbe, dass untereinander Frieden herrscht, auch bei sozialen Gegensätzen, dass einer dem anderen aushilft, dass es eine lebendige und förderliche Konkurrenz der Lösungsansätze für die vor uns stehenden Probleme gibt, damit wirklich das Beste zum Wohle aller am Ende steht?
Wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen sind immer Entscheidungen, die das Wohl und Wehe vieler Menschen betrifft. Ein verantwortungsbewusstes Handeln für die Menschen braucht einen guten Geist, um den hohen Wert eines gesamtgesellschaftlichen Friedens zu fördern. Was wäre unser Einsatz für den Frieden in der weiten Welt, wenn es nicht Menschen gäbe, die dafür mit Leib und Leben einstehen? Was wäre das für ein Frieden, wenn es nicht jene Mahner gäbe, die uns immer wieder daran erinnern, in welche Gefahren wir uns begeben und worauf wir achten müssen?

Verantwortung des Einzelnen

Es gibt in unseren Gemeinden, aber auch draußen in der Welt viele Friedlosigkeiten, weil gegensätzliche Haltungen sich auszuschließen drohen; weil Menschen einander nicht mehr zuhören und verstehen wollen und können; weil es echten Dialog nicht gibt und weil niemand aushält, dass es auf viele bedrängende Fragen keine einfachen Antworten gibt, die von heute auf morgen verwirklicht werden können. Frieden zu leben, bedeutet mehr als nur einen faulen Kompromiss zu schließen, der Gegensätze zudeckt.
Als Führungskräfte auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen sind gerade wir Rotarier angesprochen, dem Frieden der Welt zu dienen, und zwar nicht nur in unseren vielfältigen Sozialprojekten, sondern auch durch persönliches Vorbild: indem wir friedvoll leben mit Anderen, aber auch indem wir Frieden mit uns selbst schließen – im Alltag, in den kleinen und großen Herausforderungen. Einen solchen Frieden wünsche ich uns in Zeiten, in denen es oft sehr friedlos zugeht.