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Titelthema

Gewalt im Leerlauf

Titelthema - Gewalt im Leerlauf
© Illustration: Edel Rodriguez

Der tiefe Blick in ein aufgewühltes Land offenbart: Die Proteste im Iran betreffen alle Volksgruppen. Das macht sie für das Mullah-Regime so gefährlich.

Walter Posch01.01.2023

Seit September 2022 wird im Iran demonstriert. Anlassfall war der Tod der Studentin Mahsa Zhina Amini in Gewahrsam der Teheraner Polizei. Die jetzigen Proteste sind zahlenmäßig geringer als jene der großen Krise des Jahres 2009. Sie sind aber bedeutender, weil sie alle Gesellschafts- und Volksgruppen und alle Provinzen betreffen. Deshalb lassen sie sich nicht als Teil jener Protestserie abtun, die seit 1999 in regelmäßigen Abständen das Land ergreift und die meist damit endete, dass die wichtigsten Aktivisten verhaftet wurden oder ins Ausland flohen. Die jetzige Krise wird allgemein als politischer Wendepunkt verstanden.

Amini war Opfer der misogynen Natur des Regimes sowie konfessioneller und ethnischer Diskriminierung. Die Proteste richten sich nun gegen alle Formen der Diskriminierung und bringen unterschiedliche Interessen zusammen, die zwar nur lose koordiniert sind, aber das Regime gleichwohl unter Druck bringen. Ein Grund hierfür ist die vom jetzigen Präsidenten Ebrahim Raisi betriebene Ausschaltung der sogenannten Reformkräfte, die bisher zwischen der Zivilgesellschaft und dem Regime vermitteln konnten, indem sie den Eindruck erweckten, die Ideologie Chomeinis sei reformierbar.

Ideologische Gleichschaltung

Der Kopftuchzwang steht im Zentrum der islamistischen Ideologie Chomeinis, weil er das sichtbare Zeichen des koranischen Prinzips des „Gebieten des Richtigen und Verbieten des Verwerflichen“ (pers. „amr be ma’ruf va nahiy az monker“) ist. Anhand dieses Grundsatzes setzen Islamisten weltweit islamische Normen in der Gesellschaft durch. Dabei geht es nicht um freie Religionsausübung, sondern um ideologische Gleichschaltung mittels kultureller Kontrolle des öffentlichen Raums. In der politischen Praxis des Iran wird der vielfach nur widerwillig befolgte Kopftuchzwang als Anerkennung des Sieges der Revolution gelesen.

2023, titelthema, illustration
© Illustration: Edel Rodriguez

Islamistische Revolutionäre, die sogenannten Hesbollahis, sehen das anders. Diese gleichermaßen religiösen wie ideologischen Fanatiker fordern eine permanente Kulturrevolution, weil die Islamisierung der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen noch nicht abgeschlossen ist. Während der Revolution 1979 bildeten die Hesbollahis islamistische Schlägertrupps, später arbeiteten viele von ihnen im Sicherheitsapparat, einige bildeten halblegale bewaffnete Milizen. Andere nahmen die Islamisierung selbst in die Hand und organisierten die in der Bevölkerung gefürchteten „Moralpatrouillen“ („gascht-e erschad“), welche von einer unabhängigen Stabsstelle koordiniert und geführt werden. Die Moralpatrouillen sind also weder Teil der Justiz noch der Polizei, der sie jedoch angegliedert wurden, um ihre Gewaltexzesse einzuhegen; daher der missverständliche Begriff „Sittenpolizei“. Die Stabsstelle wiederum arrogierte in den letzten Jahren immer mehr Macht und Kompetenzen zulasten der Justiz.

Kein Zugeständnis ans Volk

Indem nun viele Iranerinnen die islamischen Bekleidungsvorschriften ignorieren, wurde zunächst ein ideologisches Tabu gebrochen. Mit dem Schwinden der Angst wurde den Moralpatrouillen und der Stabsstelle ihre Wirkungslosigkeit vor Augen geführt. Da selbst rücksichtsloser Gewalteinsatz wie Vergewaltigungen mit Todesfolgen die demonstrierenden Frauen nicht zum Schweigen brachte, stellt sich für das Regime die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen dieses repressiven Elements des Sicherheitsapparats. Die temporäre Einstellung ihrer Aktivitäten, die im Westen als Auflösung der Sittenpolizei interpretiert wurde, ist als internes Ausbalancieren des Systems, nicht als Zugeständnis an die Bürgerinnen und Bürger zu verstehen.

Aber selbst wenn es dem Regime ernst wäre, den säkularen und urbanen Schichten entgegenzukommen, bliebe dies ohne Einfluss auf die Protestbewegung. Zum einen, weil die Forderungen für das Regime nicht erfüllbar sind, und zum anderen, weil die Solidarität innerhalb der iranischen Gesellschaft über alle Volks- und Konfessionsgruppen hinweggeht. Damit wurden die Bemühungen des Regimes unterlaufen, die Gesellschaft zur leichteren Kontrolle entlang ihrer sozialen und ethnischen Bruchlinien zu spalten.

Polizeigewahrsam als Problem

Besonders deutlich wurde dies, als der wichtigste Vertreter der Balutschen, der sunnitische Imam Maulana Abdolhamid Ismailsahi, der Familie Amini kondolierte. An die Adresse der Machthaber gerichtet, predigte er, nicht die Frage nach dem Kopftuch im Sinne der Frömmigkeit sei das Problem des Iran, sondern die Tatsache, dass es in Polizeigewahrsam regelmäßig zu Todesfällen komme, deren Opfer überwiegend Frauen und Angehörige konfessioneller und ethnischer Minderheiten seien. Ein weiteres grausames Beispiel für die Brutalität der Sicherheitskräfte war die Vergewaltigung und Ermordung eines Balutschenmädchens durch einen Revolutionsgardisten, die sich kurz vor dem gewaltsamen Tod Aminis zugetragen hatten und die Balutschen verbitterten. In den nachfolgenden Predigten betonte Abdolhamid, dass die Frage nach der richtigen Religion oder der wahren Auslegung des Glaubens keine Angelegenheit des Staates sei, dieser muss Sufis, Christen, Juden, Bahais, Schiiten und Sunniten gleichberechtigt und ohne Diskriminierung behandeln. Den Koran zitierend betont er, dass legitime Herrschaft von gerechter Staatsführung und nicht vom „richtigen“ Glauben kommt, ein Land könne von einem Ungläubigen, nicht jedoch von einem Tyrannen regiert werden. Diese Argumentationslinie wurde von sunnitischen Predigern überall im Lande aufgenommen, vor allem auch in Kurdistan.

Die sunnitische Achse zwischen Balutschistan im Osten und Kurdistan im Westen ist jahrhundertealt und wird von der weltweit aktiven Nakschibandi-Bruderschaft gestützt. Seit der Revolution wählte die überwiegende Mehrheit der iranischen Sunniten die Reformkräfte, ohne dass ihre Forderungen wie der Bau einer sunnitischen Moschee in Teheran oder die Aufnahme von Sunniten in die Sicherheitskräfte erfüllt wurden. Aus diesem Grund änderte Maulana Abdolhamid seine Politik und entschloss sich während der Wahlen 2021, den schiitischen Fundamentalisten Ebrahim Raisi zu unterstützen und der iranischen Regierung diplomatisch bei den Taliban zu helfen. Diese versuchte er zu mehr Inklusion und Toleranz für die afghanischen Schiiten zu bewegen, dasselbe forderte er von Teheran für die iranischen Sunniten ein. Als nach knapp einem Jahr klar wurde, dass Präsident Raisi weder willens noch in der Lage ist, den iranischen Sunniten entgegenzukommen, bedurfte es nur eines Anlassfalles, bis ihre wichtigsten Vertreter das Regime offen kritisierten.

Kurdische Öffentlichkeit unterschätzt

Die Bedeutung der weitverzweigten Amini-Sippe im iranischen Kurdistan erklärt, warum Revolutionsführer Chamenei öffentlich (wenn auch halbherzig) sein Bedauern über den Tod Mahsa Zhina Aminis äußerte und warum die Sicherheitskräfte mit dem Eingreifen in Sakkes und Sanandadsch, wo es zu wütenden Protestkundgebungen gekommen war, noch zuwarteten. Offensichtlich kalkulierten sie damit, dass die Proteste als lokales Ereignis auf die unmittelbare Heimat Aminis begrenzt blieben. Dabei unterschätzten sie die kurdische Öffentlichkeit, die sich längst schon von den unterwanderten politischen kurdischen Organisationen und Parteien emanzipiert hat. Kurdische Menschenrechtsaktivisten machten den Fall Amini im Westen bekannt, von ihnen kam auch der – ursprünglich kurdische – Slogan „Frau – Leben – Freiheit“ („jin jiyan azadi / zan zendegi azadi“). Damit bekamen die Proteste erst ihre beeindruckende internationale Dimension, was der zerstrittenen iranischen Exilopposition und Aktivistenszene in dieser Art kaum gelungen wäre. Unabhängig von Abdolhamid betonten auch die Kurden die Notwendigkeit des gemeinsamen Bemühens aller diskriminierten Gruppen im Iran für eine bessere Zukunft des Landes.

Die iranischen Sicherheitskräfte waren sichtlich bemüht, den zivilgesellschaftlichen Aspekt der Proteste zu ignorieren und ein Problem der inneren Sicherheit, namentlich des Separatismus, zu konstruieren. Dieser Versuch misslang jedoch in Mahabad, einer Hochburg der kurdischen säkularen Nationalisten und in Sahedan. Dort wurden am „blutigen Freitag“, dem 30. September 2022, mehr als 50 unbewaffnete Gläubige vor der Moschee erschossen. Noch bevor die Identität der Attentäter festgestellt werden konnte, hieß es in den staatlichen Medien, dass eine sunnitisch-fundamentalistische Terrorgruppe dahinterstehe. Als die Bevölkerung die Schützen überwältigte und tötete, stellte sich nicht ganz zu ihrer Überraschung heraus, dass es sich um hohe Offiziere des Geheimdienstes der iranischen Revolutionsgarden handelte. Dadurch verschärfte sich die Situation in Balutschistan zusehends. So erklärte Abdolhamid, dass man der iranischen Sicherheitskräfte nicht bedürfe, sondern selbst für Sicherheit sorgen könne. In den folgenden Wochen wurde Maulana Abdolhamid von den Vertretern aller Gesellschaftsschichten, Klerikerverbände und Stämme Balutschistans als Vorsitzender anerkannt, was seine Position der Regierung gegenüber stärkte.

Als Ideologen ist den Teheraner Islamisten bewusst, dass eine militärische Auseinandersetzung, die sie im Übrigen nicht scheuen, nur dann von Erfolg gekrönt sein wird, wenn das politische Narrativ des Gegners möglichst vor einer Konfrontation zerstört wird. Das ist im Fall der laufenden zivilgesellschaftlichen Proteste nicht der Fall. Würde das Regime nun in Balutschistan und Kurdistan massiv militärisch eingreifen, würde der Konflikt sofort eine konfessionelle Dimension annehmen, und verbitterte junge Aktivisten würden sich von der moderaten, traditionalistischen sunnitischen Führung ab- und Extremisten zuwenden. Selbst ein brutales Durchgreifen gegen das säkulare Element der Gesellschaft würde nur zu einem Pyrrhussieg führen, weil die jetzt aktive Generation hoher Offiziere zwar den Befehlen und Anweisungen der Regierung folgt, gleichzeitig aber auch die Zeit nach der Herrschaft des 84-jährigen Revolutionsführers Chamenei im Auge hat und deshalb anders als bisher empfindlich reagiert, wenn sie mit Namen und Funktion als Verantwortliche für willkürliche Verhaftung und Justizmord genannt wird.

Unzufriedenheit bleibt bestehen

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass das Regime auch diese Krise überstehen wird und die endgültigen Weichen erst nach dem Abtritt Chameneis gestellt werden, der zu Recht als Verantwortlicher für die jetzigen Verhältnisse gilt. Dennoch sind diese Proteste nicht umsonst. Erstens, weil es iranische Proteste sind, die auf iranische Verhältnisse reagieren und nicht die Befindlichkeiten der sogenannten Reformer oder der Exiliraner bedienen. Zweitens, weil die Vision eines gerechten Iran frei von Folter und Korruption, in dem die Iraner so, wie sie sind – religiös, säkularistisch, sunnitisch, schiitisch, mystisch, materialistisch, ethnisch –, gleichberechtigt akzeptiert werden, schon längst die gesamte Gesellschaft erreicht hat. Und schließlich hat Teheran hinsichtlich seiner politischen und ideologischen Kontrolle der Gesellschaft alle Register gezogen, ohne die große Unzufriedenheit und die offene Feindschaft, die den Regierenden auf allen Ebenen der Gesellschaft entgegenschlägt, unterdrücken zu können. Die Gewalt des Sicherheitsapparats befindet sich bereits im Leerlauf, langfristig führt das zur politischen Entropie. Einige Beobachter gehen davon aus, dass diese schon eingetreten ist.