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Porträt

„Ich fürchtete, ich würde springen“

Porträt - „Ich fürchtete, ich würde springen“
Rabbi Akiva Weingarten vor einem Parochet – einem traditioneller Vorhang eines Toraschreins © Dietrich Flechtner

Als Mittler zwischen Tradition und Moderne gründete der 37-jährige Rabbiner Akiva Weingarten in Dresden eine Toraschule für Aussteiger aus der ultraorthodoxen Szene.

01.06.2021

Schwarze Robe, Bachelor-Mütze, gelöster Gesichtsausdruck. Stolz präsentiert sich der frischgebackene Bachelor of Arts unter dem Triumphtor des Neuen Palais. „Es ist aufregend, der erste in meiner Familie mit akademischem Abschluss zu sein“, kommentiert Akiva Weingarten das Bild auf Facebook. In der Hand hält der Absolvent des Instituts für Jüdische Studien der Universität Potsdam die gerahmte Urkunde. Akiva Weingartens Abschlussarbeit befasst sich mit Traditionen der Rabbinerordination in Israel.

Noch in New York erhält Akiva seine erste Smicha* und damit die Berechtigung, halachische Urteile zu fällen. Da ist er noch keine 18 Jahre alt. In Israel sei er noch zwei weitere Male ordiniert worden, einmal orthodox und einmal liberal, erzählt er. Hinweis auf sein besonderes Talent und seinen Blick über die virtuellen Mauern des Stadtteils Monsey hinaus, in den er 1984 hineingeboren wurde. Abgeschirmt vom Rest der Welt, leben hier Tausende ultraorthodoxe Satmarer* auf engem Raum zusammen. Für den jungen Chassiden* gibt es einen klar vorgezeichneten Weg als Rabbiner und als Vater vieler Kinder. Fernsehen, Internet oder weltliche Bücher sind nicht erlaubt, bestenfalls koschere Webseiten, ohne Sex und Wissenschaft. Gesprochen wird Jiddisch. Mit 19 schickt man ihn nach Israel, wo er eine für ihn ausgesuchte Frau heiratet. Als 22-Jähriger hat er bereits zwei Kinder, ein Drittes folgt 2011.

Er führte ein Doppelleben

Die Aussteigerin Deborah Feldman hat das Leben der Haredim* von Monsey in ihrem Buch Unorthodox eindrucksvoll beschrieben. Einblicke gibt auch die gleichnamige Miniserie – gerade mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet –, an der Akiva Weingarten mitgearbeitet hat.

Zehn Jahre lebt der angehende Toragelehrte in Bnei Brak/Israel, führt ein Doppelleben. Akiva, der schon als Kind anfing zu zeichnen, nimmt Unterricht bei dem Maler Amnon David Ar, spielt kleine Rollen in Filmen, wirkt als Berater, zum Beispiel in der Serie „Shtisel“, geht in normalen Restaurants essen: für orthodoxe Juden lauter Tabubrüche.

2014 gibt es kein Zurück mehr. Kurz vor dem Abflug nach Berlin informiert er seine Familie. Man hält ihn für meschugge. Ausgerechnet Berlin? Bei den Nazis! Doch Akiva denkt pragmatisch. Er sucht ein Land, wo er umsonst studieren kann. Das Jiddische hilft ihm, sich zurechtzufinden, auch wenn er sich nicht traut, die Fenster zu öffnen. „Ich fürchtete, ich würde springen“, erzählt er heute. Er habe schwer gearbeitet. Deutschkurs an der VHS, Abi, Studium, Praktika in liberalen Gemeinden. Am Ende wird er deren Rabbiner, je zur Hälfte in Basel und Dresden.

Längst entwickelt hat er da schon die Idee einer liberal-chassidischen Jeschiwa* für andere Aussteiger. Die verlassene Gemeinschaft der Satmarer nennt der 37-Jährige heute eine religiöse Sekte. Sein Schritt zum liberalen Judentum ist allerdings weniger radikal, als man vermuten möchte. Gerne trägt er bei Gottesdiensten einen silber schillernden Kaftan und Schtreimel, die pelzbesetzte Kopfbedeckung der Chassidim. Er versteht sich als Mittler zwischen Tradition und Moderne.

Die 2020 mitten im ersten Corona-Lockdown gegründete Jeschiwa nennt er Bescht – ein Akronym des Gründers der chassidischen Bewegung, Rabbi Israel Ben Elieser, genannt Baal Schem Tov. Inzwischen haben sich 15 Studierende aus Israel eingeschrieben. Akiva und sein Mitstreiter, Rabbiner Schlomo Tikochinski aus Jerusalem, kümmern sich um Wohnungen, Deutschunterricht, Stipendien, knüpfen Kontakte zu Hochschulen und Ämtern. Die mediale Öffentlichkeit hat Akiva schnell neugierig machen können. Unterstützt wird er auch von der Stadt Dresden und den Kirchen. Er wünscht sich, „Gutes für andere Menschen“ tun zu können. Das sei Sinn des Lebens.

Im Unterschied zu anderen Aussteigern wie Deborah Feldman wird Akiva von seiner Familie nicht verstoßen. Immer  wieder nimmt Mutter Sarah von New York aus an Zoom-Meetings teil. Die Kinder melden sich aus Bnei Brak.

Doch wie schwierig das Leben für Juden in Deutschland sein kann, erfährt Akiva Weingarten durch den Anschlag auf die Synagoge in Halle. Er nimmt am Prozess gegen den Attentäter teil, um Opfer zu begleiten. Im Magdeburger Landgericht beschließt er, auf der Straße immer eine Kippa zu tragen, hat er doch das Gefühl, der Terrorist sei noch nie zuvor einem Juden begegnet. Er möchte als Jude sichtbar sein. „Alle sollen sehen, dass wir ein Teil der Gesellschaft sind, dass wir hier sind, um zu bleiben. Wir gehen hier nicht weg!“

Dresden wird er jedoch verlassen, um eine neue Herausforderung anzunehmen. Er wird Oberrabbiner in der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, bleibt aber Rabbiner in Basel und Lehrer an der von ihm gegründeten Jeschiwa in Dresden.

Wolfram Nagel


* Smicha – Handauflegen bei der Rabbinerordination
 
* Satmar – chassidische Bewegung, 1905 von Rabbi Joel Teitelbaum gegründet, benannt nach der Stadt Satu Mare (damals Königreich Ungarn)
 
* Chassidismus – im 18. Jahrhundert entstandene Bewegung aschkenasischer Juden in Osteuropa
 
* Haredim – die Frommen
 
* Jeschiwa – Toraschulen

Zur Person

Akiva Weingarten (RC Dresden-International), geboren 1984, wuchs im streng religiösen Monsey/New York auf. Dort bekam er eine religiöse Ausbildung, die er in Israel fortsetzte. 2014 ging er nach Berlin und wandte sich dem liberalen Judentum zu. Als Rabbiner betreut er Gemeinden in Basel und Dresden und gründete 2020 eine liberal-chassidische Toraschule für jüdische Aussteiger.