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Nach Berlin – pourquoi pas?

Rotary Aktuell - Nach Berlin – pourquoi pas?
Am Sonntag eine Apfeltarte - soviel französische Esskultur muss sein © Matthias Schütt

Aus Paris an die Spree – warum eine französische Familie mit drei Teenagern ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegte

Matthias Schütt01.08.2017

Wie Abenteurer sehen die beiden nicht aus, und doch haben Anne-Christine und Richard François-Potocka vor sechs Jahren genau das gewagt: ein Abenteuer. Sie zogen mit Kind und Kegel von Paris nach Berlin. Das Ehepaar in den besten Jahren ließ sich dabei von der eigenen Tochter Paola (damals 14) inspirieren, die kurz zuvor im Rahmen des Brigitte-Sauzay-Austauschprogramms für drei Monate bei einer Berliner Familie in Kreuzberg zu Gast gewesen war.  

Wie man dazu kommt, seinen Lebensmittelpunkt aus einer Kultur in die andere zu verlegen, das erzählen die beiden beim Kaffee in ihrem gemütlichen Vorstadthaus im grünen Norden der Hauptstadt: Sie sind beide Freiberufler und damit nicht an einen bestimmten Arbeitsplatz gebunden. 

 

Niedrige Hürden

Eine zweite Voraussetzung: Es gab beziehungsweise gibt für ihre drei Kinder Schulen, in denen die Bildungsangebote beider Kulturen zusammengeführt werden. Die damals 10-jährigen Zwillinge Maximilien und Alexandre werden in Berlin in der Staatlichen Europaschule Berlin (SESB) bilingual zum Abitur geführt, genauer: zum AbiBac, das ist die in beiden Ländern anerkannte Hochschulreife. Paola hatte bereits in Paris viele Jahre Deutsch in einer internationalen Schule gelernt und in Berlin dann das AbiBac abgelegt. Sie studiert inzwischen an der TU Berlin Geotechnologie.

Formal waren die Hürden niedrig, aber auch die kulturelle Umstellung war kein Problem, denn beide Eltern sind lange mit Deutschland verbunden. Anne-Christines Mutter war Deutsche, ging zum Studium nach Paris und lernte dort ihren französischen Mann kennen. „Deutsch ist im wahrsten Sinne des Wortes meine Muttersprache“, erzählt sie, die als Kind sechs Jahre in Teheran eine deutsche Schule besucht hat. Sie hat später Medizin studiert, als Ärztin gearbeitet und ist heute wissenschaftliche Beraterin in der Pharmaindustrie. Deutschland war immer ein fester Bezugspunkt für Familienfeiern mit Großmutter und Cousins in Hessen.

 

Rau aber herzlich

Richard hat keinen deutschen Hintergrund, aber einen Vater, der als Berufsoffizier mit seiner Familie längere Zeit in Deutschland verbracht hat. Deutsch wurde Richards erste Fremdsprache und später hat er selbst einige Monate seiner Militärzeit in Reutlingen verbracht. Er studierte BWL, wurde Marketingexperte in der Industrie und kam noch mal zum Praktikum nach Augsburg. Kennengelernt haben die beiden sich 1994 auf einem Flug von Atlanta nach Paris: Sie kam von einem Kardiologenkongress, er von einem Geschäftstermin.

„Die Gelegenheit war da“, fasst Richard die Entscheidung für Berlin zusammen. Was er damit sagen will: Die Idee traf auf eine Gefühlslage, die nach Veränderung rief. Sie lieben Paris, aber sie litten unter dem gesellschaftlichen Stillstand der Hollande-Jahre, „einer schlechten Stimmung, die aufs Gemüt schlägt“. Im Vergleich zu Paris empfinden sie Berlin als rau, aber herzlich. Jetzt setzen sie große Hoffnung auf Emmanuel Macron und eine neue Lust auf Europa.

Zu den weichen Faktoren kommen ganz nüchterne Vorteile: Die Lebenshaltungskosten sind „dramatisch“ günstiger, die Mieten billiger. „In Paris gilt eine 100-Quadratmeter-Wohnung schon als Luxus.“ Und dann ist Berlin geradezu ein Freizeitparadies mit einer Vereinsstruktur, die bezahlbare Angebote für jede Altersgruppe bereithält. „Die vielen Parks, die schöne Umgebung, alles ist großzügig, familienfreundlich. Wenn ein Kind in Paris Fußball spielen will, gibt es nur wenige, völlig überlaufene Sportplätze.“

Und wie ist es mit Nachteilen? Na klar, die wollen sie nicht ausblenden. „Die Berliner lächeln zu wenig und mit einfachen Plaudereien in der U-Bahn oder beim Kaufmann tun sie sich schwer“, vermisst Anne-Christine die französische Leichtigkeit. 


Rundum rotarisch

Andererseits gibt es in ihrer Straße nette Nachbarschaftstreffen, an denen sie gern teilnehmen. Und überhaupt: „Wenn etwas schlimm ist in Berlin, dann ist es der Winter, der länger dauert und viel kühler ist.“

Noch ein Wort zu Rotary: Richard war Mitglied im RC Grenoble-Chartreuse, ist heute Schatzmeister des RC Berlin-International und im Länderausschuss aktiv. Die beiden Jungs sind auf dem Sprung ins Rotary-Austauschjahr, nach Australien beziehungsweise Argentinien. 

Und dann ist da noch die Großmutter Margarethe Potocki, gebürtige Deutsche und enge Freundin von Anne-Christines verstorbener Mutter, die später den Vater geheiratet hat. Sie ist Hochschuldozentin für Deutsch, Mitglied im RC Clermont-Ferrand-Blaise Pascal und langjähriges Mitglied im Französisch-Deutschen Länderausschuss. 

Voilà, eine rotarische Familie zwischen den Welten, und doch mitten in Europa. Wo sie in zehn Jahren sein werden, ist völlig offen, aber die Optionen sind angenehm (und die Pariser Wohnung nur vermietet). Andererseits hat Anne-Christine schon mal vorgefühlt, wie das hier so läuft mit der Einbürgerung…

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.