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Stechen in der Brust

Forum - Stechen in der Brust
Anatomisch-medizinische Darstellung von Mann und Frau, Rudolph’sche Verlagsbuchhandlung, Dresden, um 1930: Trotz aller bekannten biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern wird bis heute bei vielen Medikamenten bei der Dosierung nicht unterschieden. © H.-D. Falkenstein/Imagebroker/Picture Alliance

Biologische Unterschiede von Männern und Frauen werden in der Medizin bisher kaum berücksichtigt. Das kann fatale Folgen haben.

Burkhard Sievers01.02.2024

Wussten Sie, dass Frauen häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen versterben als Männer? Dass Frauen häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen versterben als an allen Krebsarten zusammen? Dass durch Vorsorgeuntersuchungen 70 Prozent späterer Erkrankungen verhindert werden können? Wussten Sie, dass im Beipackzettel von Medikamenten die Dosen von Frauen und Männern nicht unterschieden werden, Frauen häufiger Nebenwirkungen haben und oftmals eine deutlich geringere Medikamentendosis für die volle Wirksamkeit benötigen als Männer? Dass Osteoporose und Depressionen bei Männern vielfach nicht erkannt und behandelt werden? Oder dass es für viele Grenzwerte in der Medizin, wie etwa Blutdruck- und Blutfettwerte, keine Unterscheidung zwischen Männern und Frauen gibt?

Mit diesen Fragen und insbesondere den Antworten darauf befasst sich die Gendermedizin, ein in Deutschland noch sehr junges medizinisches Fachgebiet. Denn Frauen, Männer und Andersgeschlechtliche haben unterschiedliche Beschwerden, zum Teil auch unterschiedliche Erkrankungen. In der Gendermedizin geht es darum, Frauen, Männer und Diverse zielgerichtet und individuell zu behandeln. Dabei spielt sowohl das biologische Geschlecht (englisch: „sex“) als auch das soziale Geschlecht (englisch: „gender“) eine Rolle. Neben dem biologischen Geschlecht sind vor allem soziokulturelle Umstände für das Auftreten und den Verlauf von Erkrankungen wichtig.

Fragen, die Leben retten

Während die Gendermedizin in den USA bereits in den 1990er Jahren entdeckt wurde, spielt sie in Deutschland und Europa noch immer eine untergeordnete Rolle. Wie wichtig das Thema aber für die Erkennung und Behandlung von Erkrankungen ist, zeigt das Beispiel Herzinfarkt: Ein Herzinfarkt ist ein lebensbedrohliches Ereignis, bei dem es durch eine akute Durchblutungsstörung zum Absterben von Herzmuskelgewebe kommt. Während die Beschwerden der Männer hinreichend bekannt sind, nämlich ein Druck- und Engegefühl in der linken Brusthälfte mit Ausstrahlung in den linken Arm und Ausstrahlung in den Kiefer, ist die Beschwerdesymptomatik bei Frauen den Frauen selbst, aber auch vielen Ärztinnen und Ärzten nicht bekannt. Frauen beklagen häufig Luftnot, Übelkeit, Schmerzen oder Druckgefühl im Oberbauch, ziehende Schmerzen in der rechten Körperregion, im Nacken oder im Rücken.

Die Beschwerden können also deutlich von denen der Männer abweichen. Dies birgt die Gefahr, dass bei Frauen der lebensbedrohliche Herzinfarkt übersehen wird und sie zu spät behandelt werden, mit der Folge einer erhöhten Sterblichkeit. Aber damit nicht genug: Wurden Sie als Frau von Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt im Zusammenhang mit dem Risiko von Herz- und Gefäßerkrankungen schon einmal gefragt, ob Sie einen späten Beginn der Regelblutung hatten, einen frühen Beginn der Wechseljahre, Eierstockzysten, Krebserkrankungen der Eierstöcke, Gebärmutter- oder Brustkrebs oder eine Blutzuckererkrankung oder Bluthochdruck während der Schwangerschaft, Früh- oder Fehlgeburten? Die vorgenannten Fragen beinhalten frauenspezifische Risikofaktoren für spätere Herz- und Gefäßerkrankungen, zusätzlich zu den bekannten Risikofaktoren Bluthochdruck, Blutzuckererkrankung, Fettstoffwechselstörung, Übergewicht, Nikotinkonsum und Nierenschwäche.

Das Risiko steigt im Laufe der Jahre

Auch das Thema Blutdruck ist aus gendermedizinischer Sicht hochinteressant: Die national und international gültigen Blutdruckgrenzwerte unterscheiden nicht zwischen Männern und Frauen. So gilt eine Frau als bluthochdruckkrank, wenn ihr Ruhe-Blutdruck 140/90 mmHg beträgt, unabhängig von ihrer Körpergröße und -statur, genau wie beim Mann. Studien haben nun zeigen können, dass bei Frauen das Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen bereits bei deutlich niedrigeren Blutdruckwerten ansteigt als bei Männern. Außerdem spielt nicht nur der absolute Blutdruckwert für das Risiko späterer Erkrankungen bei Frauen eine Rolle, sondern auch der Blutdruckanstieg über die Lebenszeit gerechnet. Frauen haben in jüngeren Jahren bis zum mittleren Lebensalter eher niedrige Blutdruckwerte, zwischen 100/60 und 115/80 mmHg. Steigt der Blutdruck mit zunehmendem Alter, vor allem ab den Wechseljahren, und liegt dann bei 135/85 mmHg, haben Frauen einen Anstieg, bezogen auf die bisherige Lebenszeit, von bis zu 35 mmHg. Dieser Anstieg ist bei Männern häufig erheblich niedriger und scheint ein zusätzliches Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Gefäßerkrankungen darzustellen. Der ideale Blutdruck für Frauen liegt wahrscheinlich bei 120/70 mmHg. Zukünftige Studien müssen klären, ob Frauen bereits bei niedrigeren Blutdruckwerten, etwa ab einem Blutdruck von 125/85 mmHg behandelt werden sollten.

Die Menge macht’s

Gerade wenn es um die medikamentöse Therapie von Erkrankungen geht, tritt ein weiteres wichtiges Thema zutage: Die Medikamentendosis ist für Frauen oft zu hoch. Dadurch treten vermehrt Nebenwirkungen auf, was dazu führt, dass Frauen die Medikamente absetzen. Somit bleibt die eigentlich behandlungsbedürftige Erkrankung unbehandelt. Es gibt mittlerweile mehrere Studien, die gezeigt haben, dass Medikamente bei Frauen niedriger dosiert werden sollten als bei Männern. Denn bei Frauen reicht oft eine 30- bis 50-prozentig niedrigere Dosis aus, um eine volle Wirksamkeit zu erreichen – mit dem Vorteil, dass die Nebenwirkungsrate dann erheblich geringer ist oder Nebenwirkungen ausbleiben. Dies hat sich zum Beispiel bei der medikamentösen Behandlung der Herzschwäche gezeigt. Hier reichte die Hälfte der empfohlenen Dosis aus, um bei Frauen eine ausreichende Wirkung zu erzielen.

Zukünftige Studien müssen darauf ausgerichtet sein, geschlechtsspezifische Unterschiede in Wirksamkeit, Dosierung und Nebenwirkungen zu testen. Es ist bekannt, dass es für Frauen und Männer unterschiedliche Alkoholgrenzwertempfehlungen gibt – für Frauen 20 Gramm (0,1 Liter Wein), für Männer 40 Gramm Alkohol pro Tag (0,2 Liter Wein). Unterschiedliche Grenzwerte werden empfohlen, da der Alkohol im Körper der Frauen anders verstoffwechselt wird als bei Männern. Völlig unverständlich ist daher, dass es für Medikamente eine solche Unterscheidung in den Beipackzetteln noch immer nicht gibt, denn auch hier gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: Frauen haben eine fast doppelt so lange Magen-Darm-Passage im Vergleich zu Männern, ihr Magensäuregehalt ist niedriger, und biochemische Stoffwechselprozesse unterscheiden sich.

Unterschiede bezüglich der Erkrankungen von Frauen und Männern gibt es in allen Fachdisziplinen der Medizin: So wird die Osteoporose (verminderte Knochendichte) fast ausschließlich mit Frauen in Verbindung gebracht. Dass Männer ab dem 70. Lebensjahr in etwa gleich häufig wie Frauen erkranken, wird meist nicht bedacht. Es bestehen auch Unterschiede in der Knochenfestigkeit, der Häufigkeit von Knochenbrüchen und deren Lokalisation. Ein weiteres Beispiel ist die Depression, ebenfalls häufig bei Männern unterdiagnostiziert. Männer bieten oftmals ein anderes Beschwerdebild als das allgemein bekannte mit Traurigkeit, Wehmut, Isolation, fehlendem Lebensmut – nämlich ein erhöhtes Sucht- und Aggressionspotenzial. Beides wird jedoch in den üblichen Fragebögen zur Depression nicht abgefragt, sodass Männer nicht erfasst werden.

In der Gendermedizin nehmen die Sexualhormone, insbesondere Östrogene, eine Schlüsselrolle ein. Bis zu den Wechseljahren haben sie eine schützende Wirkung gegen Herz- und Gefäßerkrankungen. Diese Schutzwirkung geht dann verloren. Östrogene führen auch zu einer schnelleren und gesteigerten Abwehrreaktion des Körpers (Immunantwort), was sich positiv auf die Bekämpfung von Infektionen auswirkt. Die durch Östrogene gesteigerte Immunantwort ist jedoch auch die Ursache für das im Vergleich zu Männern häufigere Auftreten von Autoimmunerkrankungen bei Frauen. Autoimmunerkrankungen sind Erkrankungen, bei denen sich körpereigene Zellen gegen das eigene Abwehrsystem richten, so zum Beispiel bei Schilddrüsenerkrankungen wie der Hashimoto-Thyreoiditis, bei Multipler Sklerose oder rheumatoider Arthritis. Männer haben seltener Autoimmunerkrankungen, da sie einen nur geringen Anteil an Östrogenen haben. Bei ihnen dominiert Testosteron als Sexualhormon, das eher abwehrhemmend und immunsuppressiv wirkt.

Erhöhtes Krebsrisiko bei Männern

Auch bei Krebserkrankungen gibt es Unterschiede: Hier sind Männer häufiger betroffen als Frauen. Warum? Eine Erklärung liegt in der Vererbung, den Chromosomen. Männer und Frauen sind unterschiedlich codiert: Männer als XY, Frauen als XX. Das zweite X-Chromosom der Frauen hat eigentlich keine Funktion. In 15 Prozent der Fälle hat es aber doch eine Restaktivität, welche den Frauen als Reparaturmechanismus dient und Defekte des anderen X-Chromosoms ausgleichen kann, wodurch Krebserkrankungen verhindert werden können. Da Männer dieses zweite X-Chromosom nicht haben, können Krebserkrankungen bei Männern häufiger auftreten.

Die Gendermedizin umfasst nicht nur Symptome oder Erkrankungen von Männern, Frauen und Diversen, sondern erstreckt sich quer über alle Fachgebiete der Medizin und Grundlagenforschung, ist also interdisziplinär und translational. Das Ziel ist letztlich eine individuelle und personalisierte Medizin.


Prof. Dr. med. Burkhard Sievers: So heilt man heute: Die häufigsten Volkskrankheiten geschlechtsspezifisch besser behandeln, ZS/Edel Verlagsgruppe, 24,99 Euro

Burkhard Sievers

Prof. Dr. Burkhard Sievers, RC Meerbusch-Büderich, ist Direktor für Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Nephrologie und internistische Intensivmedizin des Sana-Klinikums Remscheid sowie der Praxis Cardiomed 24.