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Porträt

Stolz auf unser PolioPlus-Programm

Porträt - Stolz auf unser PolioPlus-Programm
Wenn es um das Thema Impfen geht, ist der Kinderarzt Christian Schleuss kompromisslos. © Marcus Simaitis

Der Hagener Kinderarzt Christian Schleuss ist Polio-Beauftragter im Distrikt 1900 – und nimmt sein Amt sehr ernst.

Matthias Schütt01.09.2017

Wenn es um Kinderlähmung geht, kann Christian Schleuss sehr deutlich werden. Einen Eindruck davon bekam man kürzlich in diesem Magazin zu lesen: Im Mai-Heft sah sich der Kinderarzt veranlasst, in einem Leserbrief ein paar Fakten zur Polio-Kampagne zurechtzurücken, etwa die Behauptung, dass das Projekt 1988 von der WHO gestartet worden sei. „Wenn wir Rotarier uns dies gegenseitig immer so schreiben, dann glauben wir es am Ende selbst und dürfen uns über eine externe Presse, die Rotary nicht erwähnt, nicht wundern“, schrieb er in seiner Replik. Hier war Ärger, ja regelrecht Frust im Spiel bei einem, der die Kampagne ziemlich genial findet: „Aber dann müssen wir auch immer wieder uns selbst und anderen sagen: Rotary hat schon 1979 die Initiative ergriffen und die WHO ist erst eingestiegen, nachdem wir gezeigt haben, dass man die Kinderlähmung durch Massenimpfungen besiegen kann.“

Der Neue in Hagen
Polio und Rotary sind noch recht neue Themen für den 45-Jährigen, der erst vor drei Jahren in den RC Hagen aufgenommen wurde und eher zufällig von der Polio-Kampagne erfuhr. Das hat ihn bestürzt und zugleich motiviert, sich in das Gebiet reinzuknien. „Wenn ich als Kinderarzt mit über zehnjähriger Erfahrung in eigener Praxis noch nie von PolioPlus gehört habe, dann läuft in Rotarys Öffentlichkeitsarbeit etwas falsch“, legt Schleuss den Finger in die Wunde. Andererseits: Dass Privatleute dieses weltweite Programm entworfen haben und konsequent verfolgen, hat ihn nachhaltig beeindruckt. Und da er weder mit Kritik noch Enthusiasmus hinter dem Berg hält, dauerte es nicht lange, bis man im Governorbüro auf den Neuen in Hagen aufmerksam wurde. Inzwischen ist er im dritten Jahr Polio-Beauftragter seines Distrikts 1900.
Das ist eine Position, auf der man durchaus etwas bewegen kann. Er merkt das bei Distriktveranstaltungen und Clubbesuchen – und der Schatzmeister auch. Wenn der die Spendeneingänge sichtet, fällt nämlich immer wieder ein Zusammenhang zwischen Polio-Vortrag im Club und Kontobewegung auf. Für den Beauftragten heißt das, die rotarischen Freunde immer wieder neu aufzuklären, was wir tun und warum. Die größten Feinde der Polio-Kampagne hat er längst identifiziert: „Unwissen und Lethargie“. Deshalb wünscht er sich neue Strukturen. Etwa einen Arbeitskreis für Polio-Beauftragte der Distrikte oder auch die Bereitschaft im Deutschen Governorrat, das Thema mit Priorität zu pushen.  
Denn die Millionen geschützter Kinder sind ja nur eines von mehreren Argumenten, die für PolioPlus sprechen. Mit den Investitionen in Laboreinrichtungen und Kontrollsysteme haben Rotary und seine Partner das Gesundheitssystem vieler Länder geradezu revolutioniert. Und drittens nützt die Kampagne gerade auch hier bei uns. Denn Impfen ist ein großes Thema unter den jungen Eltern, da muss er viel Überzeugungsarbeit leisten. Wenn Rotary sich klar zum Thema Impfen positioniert, stärkt dies auch das Impfverhalten hierzulande und schützt unsere Kinder vor vielen Erkrankungen. „Wer die medizingeschichtliche Entwicklung unvoreingenommen verfolgt, der sieht, dass der Fortschritt weltweit im Wesentlichen auf zwei Pfeilern ruht: Hygiene und Impfen“, ist Schleuss überzeugt.
Wie es in anderen Teilen der Welt zugeht, hat er sich schon früh im Medizinstudium angeschaut. Für ein Forschungsprojekt war er bereits im fünften Semester zwei Monate in einer WHO-Klinik in Sri Lanka tätig, hat dort seinen ersten Polio-Patienten gesehen und auch sonst Krankheitsbilder, die er nur aus dem Lehrbuch kannte. Seither interessieren ihn sowohl Naturheilverfahren als auch die medizinischen Bedingungen in den armen Teilen der Welt. Zu einem zweiten intensiven Praktikum meldete er sich in einem Missionskrankenhaus in Durban (Südafrika), wo er „einmalige“ praktische Erfahrungen machte: zum Beispiel Operationsknoten mit einer Hand zu knüpfen, weil die Nadel HIV-infektiös ist. Nach Approbation und Promotion entschied er sich 1997 aber nicht für die Chirurgie, sondern für die Kinderheilkunde. „Sie ist umfassend und macht Spaß. Sie haben nur mit ehrlichen Menschen zu tun – ich meine die Kinder –, und von denen sind viele auch kerngesund. Unter anderem mit Impfungen sorgen wir dafür, dass das möglichst so bleibt. Ein weiser Lehrer hat mir mal gesagt: In der Kinderheilkunde musst du dich bücken, um zum Patienten zu kommen, und das tut uns Ärzten ganz gut.“

Gutes Impfniveau in Deutschland
Dass viele Kinder vernachlässigt werden, Verhaltensstörungen massiv zunehmen und der Kinderarzt mitunter auch als Sozialberater gefragt ist, wirft einen Schatten auf den schönen Beruf. Es gibt Eltern, die interessieren sich nicht für ihre Kinder, und es gibt Eltern, die sich im Internet schon vorher so munitioniert haben, dass er in der Sprechstunde wie gegen eine Wand redet. Hier verschafft ihm die Zusatzqualifikation als Arzt für Naturheilkunde besondere Glaubwürdigkeit; manchmal geht es eben nicht ohne Antibiotika. Auch in Sachen Impfen ist er kompromisslos: „Kinder über 15 Monate, die ohne Masernimpfung in die Sprechstunde kommen, schicke ich weg. Da tut es mir leid. Wir haben nachweislich Ansteckungen in einer Kinderarztpraxis erlebt. Das wird es in meiner Praxis nicht geben.“
Womit wir wieder beim Thema wären. „Im Grunde haben wir in Deutschland ein gutes Impfniveau“, weiß Schleuss. „Das setzt aber voraus, dass konsequent geimpft wird. Gegen Masern und andere Erkrankungen, aber auch gegen Polio.“ Weil die Kinderlähmung aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, hat er sich kürzlich eine besondere Aktion überlegt: den 1. Hagener Polio-Tag. Schleuss organisierte eine ärztliche Fortbildungsveranstaltung mit Zertifikat und konnte über 100 Teilnehmer aus 30 Rotary Clubs in der Fachhochschule Hagen begrüßen. Ein volles Haus gewinnt man nicht einfach so. Dazu war unter anderem ein Großeinsatz mit Flyern notwendig, die an alle Governors in Deutschland sowie alle Clubs im Distrikt verschickt wurden.

Leuchtturm-Projekt PolioPlus
Die Aufmerksamkeit der Rotarier für PolioPlus immer wieder neu zu entfachen, das ist die eigentliche Kunst in seinem Distriktjob. Mit dem Polio-Tag ist das gelungen. Aber den kann er 2018 nicht einfach wiederholen. Dazu ist die Organisation zu aufwendig. Langfristig setzt er auf kleine Schritte: in jedem Club einen Ansprechpartner zu finden, den oder die er mit aktuellen Informationen versorgen kann. „Wenn Rotary ein weltweites Leuchtturm-Projekt hat, dann ist es unser PolioPlus-Programm. Das sollte jeder kennen – und jeder sollte stolz darauf sein.“

 


 

Zur Person

Dr. med. Christian Schleuss (RC Hagen), Jahrgang 1972, studierte Medizin in Düsseldorf und Zürich, wurde Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie Arzt für Naturheilverfahren. Seit 2004 führt der zweifache Vater eine eigene Kinderarzt-Praxis in Hagen. Wenn ihm Beruf, Familie und Rotary noch Zeit
lassen, spielt er Kontrabass, schraubt an seinem Oldtimer oder betreut seinen Sohn Lucas (14), einen ambitionierten Nachwuchssegler.

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.