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Peters Lebensart

Ein kurzes Innehalten

Peters Lebensart - Ein kurzes Innehalten
© Jessine Hein/Illustratoren

Ein Besuch in der Buschenschank – mehr braucht es nicht, um glücklich zu sein

Peter Peter01.10.2023

Feierst du Erntedank? Nein, meine Familie ist nicht sonderlich religiös. Solche Antworten hört man häufig. Manche Ältere erinnern an die diktatorische Instrumentalisierung. Etwa beim Reichserntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln mit großem Führerauftritt, oder sie assoziieren es mit Propagandabildern stalinistischer Schnitterinnen.

Solche abwehrenden Reaktionen sind schade. Denn sie berauben uns eines Moments des bewussten Innehaltens und der Dankbarkeit, sei es gegenüber Gott, sei es gegenüber der Schöpfung, sprich der Natur, die uns versorgt.

Und schöner Anblicke. Das christliche Erntedankfest, das unsere großen Konfessionen mittlerweile am ersten Oktobersonntag feiern, ist stärker als andere Kirchenfeste durch die Fantasie und Initiative der Gläubigen geprägt. Es ist ein feierlicher Moment, wenn aus einer Tiroler Barockkirche die aus Ährengarben geflochtene Erntedankkrone zur Prozession herausgetragen wird und im Herbstlicht hell aufscheint. Und rotbackige Äpfel, die in einer kargen holsteinischen Pfarrkirche sorgsam zu Mustern um den Altar gelegt sind, wirken ein bisschen wie in der Antike, als man die ersten reifen Früchte den Göttern weihte.

Man kann Erntedank sehr wohl weltlich feiern. Auch wenn die meisten nicht mehr in bäuerlichen Berufen tätig sind und das ursprüngliche Motiv, nach getaner Feldarbeit und eingebrachter Ernte sich einen Moment glücklichen Rastens oder auch ausgelassenen Erntedanktanzes zu gönnen, nicht mehr im Vordergrund steht. Aber wir können die Produkte feiern und genießen, wie es uns die Italiener mit ihren „sagre“ im jahreszeitlichen Rhythmus vormachen. In einer Gegenwart, in der das „omnia & ubique“ (alles überall), einst das stolze Renaissance-Motto der wohlversorgten Reichsstadt Augsburg, zur Reizüberflutung durch Endlosregale voll verpackter Supermarktwaren mutiert ist, tut es gut, wieder ein Gespür für die Jahreszeiten, die Herkunft unserer Speisen zu gewinnen. Ich denke da vor allem an ein Genussmittel, das sich der ganzjährigen Verfügbarkeit entzieht: junger Wein, landschaftlich auch Federweißer, Sturm, Sauser, „vino torbido“ oder „vin nouveau“ genannt.

Mein privater Erntedank sind einfache, authentische Genüsse, je schlichter, desto besser. Südtiroler Erbhöfe, die zum Törggelen ihre Herrgottswinkelzirbenholzstube für wenige Wochen öffnen. Geröstete Maronen (Keschten), anisgewürztes Schüttelbrot, ein Stück gereifter Bauernspeck zum Selberschneiden und ein Krug „Nuier“, hellroter, noch leicht moussierender Alpenvernatsch, das genügt, um einen Moment glücklich zu sein oder ein bisschen zu träumen. Oder der Duft von frisch gebackenem Zwiebelkuchen in einer badischen Rädlewirtschaft, wo das Winzerehepaar Schoppen von jungem Gutedel ausschenkt. Buschenschanken in den Kellergassen des Burgenlandes oder Niederösterreichs, wo man auf rohen Holztischen draußen vor den Presshäusern sitzt, frisch geerntete Nüsse knackt und die Wahl hat zwischen blassrosa Uhudler-Sturm oder heurigem Grünen Veltliner. Zugegeben, das klingt alles sehr romantisch aufgetragen, aber mit ein wenig Gespür findet man solche Plätze, die in sich ruhen und eine archaische Verbundenheit mit der Natur ausstrahlen. Hin und wieder sollte man sich diese totale Idylle als Gegenprogramm zur digitalen Alltagshektik gönnen. Wenn man dann noch das Glück hat, im Freien atmend einen warmen, sonnigen Herbsttag als Landschaftsmaler zu erleben, wo sich im Glas bunt gesprenkelte Wälder, die goldenen Blätter des Ahorn und die roten der Blutbuchen spiegeln, dann erfüllt einen die Gewissheit: Harmonie ist möglich. Jetzt und hier!

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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