https://rotary.de/kultur/ikoninnen-in-geschichten-und-gegenwart-a-15735.html
Hoffmeisters Empfehlungen

Ikoninnen – in Geschichte(n) und Gegenwart

Hoffmeisters Empfehlungen - Ikoninnen – in Geschichte(n) und Gegenwart
© Jessine Hein/Illustratoren

60 Jahre Rock- und Popgeschichte: eine lohnende Rückschau

Martin Hoffmeister01.04.2020

2020, joni mitchell, Buch, david yaffe, ikone
© Matthes und Seitz

Die Geschichte der Popularmusik kennt ebenso viele Helden und Idole wie Mythen, Marginales und künstlerische „Unfälle“. Vieles, das einst Feier und Superlativen wert schien, erwies sich nach kürzester Zeit bereits als obsolet. Kommerziellen Höhenflügen folgte die Ausblutung kreativer Substanz. So bleiben denn nach mehr als 60 Jahren aufgeladener wie ausladender Pop- und Rockgeschichte nicht mehr als zwei Hände voller Wegmarken und Namen, die staunender Rückschau lohnen. Dass der kanadischen Songwriterin Joni Mitchell der Ruhm, Bleibendes geschaffen zu haben, zufallen würde, wussten Eingeweihte spätestens nach Erscheinen Ihres Albums „Blue“ (1971), das exemplarisch die Essenz ihrer dichterischen, harmonischen und melodischen Potenziale präsentierte und, anders, komplexer, abgründiger und intensiver noch als Dylan-Songs, Existenzielles in luzid-unbedingter Weise verhandelte, ohne dem Zeitgeist zu huldigen. David Yaffes nun auch in deutscher Übersetzung vorliegende sprachmächtige biografische Hommage an die Musikerin und Malerin ermöglicht Bewunderern einen umfassenden wie detailgenauen Einblick in den Lebens- und Schaffenskosmos der widerständigen Künstlerin, die, jenseits kommerzieller Ambition, Erfahrungen von Schmerz, Aporie, Verlust und Verletzbarkeit authentisch in Songs zu überführen wusste.

Zwingender noch als historische Einlassungen vergegenwärtigen uns das ferne Mittelalter die einschlägigen Sagen und Epen der Zeit. Dichter wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Chretien de Troyes und andere setzten mit Protagonisten wie Parzival, Lancelot oder Erec markante und virile Charaktere auf die Agenda. Unter ging im Trubel der Schlacht- und Jagdszenen, opulenter Tafeln, der Händel um Ruhm und Ehre, der Intrigen und des Verrats nicht selten das weibliche Personal und damit kluge, weitsichtige, ansehnliche und stolze Frauen wie Lavinia, Laudine, Orgeluse, Belakane, Dido oder Sigune. Autor Rolf Vollmann eröffnet dem Leser mit „Frauenkatalog 1200“ einen grundlegenden Perspektivwechsel. Spielerisch, humorvoll und leichthändig, bisweilen mittels ironischer Distanz, lässt er in „zehn Bildern“ Königinnen, Geliebte, Seglerinnen, Witwen und Heldinnen Revue passieren und fokussiert den Blick auf das verborgene Eigentliche: Frauen führen und lenken die Geschicke.

2020, hoffmeister, april, pr, warner classics
© Warner Classics

Nicht immer gelingt „klassischen“ Musikern der Brückenschlag zu populären Musikfarben. Nur zu selten steht das Neben- oder Übereinander von Klassik und Pop für sinnstiftende und konsistente künstlerische Ergebnisse. Mit dem Album „Unsere Vier Jahreszeiten“ realisierten die französischen Geigerinnen Camille und Julie Berthollet ein lang gehegtes „persönliches“, von Kindheitserinnerungen getragenes Projekt, das Antonio Vivaldis famosen gleichnamigen Konzerte-Zyklus kombiniert mit fünf Popsongs zum Thema. Ob die zwischen Experiment und Konzept-Album verortete CD als Ganzes zu reüssieren vermag, wird jeder Hörer für sich beurteilen müssen. Unangetastet davon bleiben die bemerkenswerten Vivaldi-Lesarten der Berthollets, die nicht nur mit eminenter Verve und originären klanglichen Tableaus, sondern auch durch erlesenes Handwerk und überraschende musikalische Volten überzeugen.

Sie sei „eine Kette glänzender Juwelen vom Anfang bis zum Schluss“, rühmte Robert Schumann Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“. Tatsächlich steht das ambitionierte, dicht konzipierte dramatische Werk mit seiner zukunftsweisenden Harmonik dem vorausgegangenen „Freischütz“ in nichts nach. Christof Loys Regie übersetzt den mittelalterlichen Stoff um Liebe, Treue und Intrige umstandslos und frei von angestrengter Neu-Deutung ins Heute. Constantin Trinks’ makelloses Dirigat und das hochkarätige Solisten-Tableau rundeten das Wiener Projekt zu einem der Opern-Highlights des Jahres 2018.


  • David Yaffe, Joni Mitchell. Eine Biografie, Mattes & Seitz Berlin, 500 S., 25 Euro
  • Rolf Vollmann, Frauenkatalog 1200, in zehn Bildern, Die Andere Bibliothek, 344 S., 44 Euro
  • Camille & Julie Berthollet, Nos 4 Saisons, Warner Classics, CD
  • Carl Maria von Weber, Euryanthe, ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, Arnold Schoenberg Chor, Constantin Trinks, Stefan Cerny, Jacquelyn Wagner u. a., Naxos, 167 Min., DVD
Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

mdr.de