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Rotary aktuell

Der Abschlusstest

Rotary aktuell - Der Abschlusstest
ShelterBox-Notfallteam © Alyce Henson/RI (6)

Nach einem anstrengenden Jahr nehmen zwei Rotarier und eine Rotaracterin die letzte Hürde vor der Aufnahme in das ShelterBox-Notfallteam

01.08.2018

Im Sommer 2016 suchte Wes Clanton (RC Nashville Tennessee) nach einer neuen Aufgabe. Ziemlich überraschend für alle, die ihn und seinen überfüllten Terminkalender kannten. Als Offizier der Handelsmarine war er bereits sechs Monate im Jahr mit einem Frachtschiff im Pazifik unterwegs – 60 Tage auf See und 60 Tage auf Heimaturlaub. Nebenbei arbeitete er an seinem Master in Seeverkehrswirtschaft – „im Prinzip ein MBA für Bootfahren“, wie er selbst sagt.

Es fehlte etwas Wichtiges im Leben
In seiner Kindheit waren seine Eltern viel auf „Missionseinsätzen“ und weckten in ihm denselben Wunsch: Etwas zurückzugeben, ob zu Hause oder anderswo in der Welt. Nicht zuletzt diese Einstellung brachte ihn zu Rotary: „Besonders der Dienstaspekt hat mir gefallen“, sagt er. „Ich habe etwas gesucht, das wichtiger ist als ich selbst.“ Er wollte noch mehr tun. „Ich suchte ein größeres Projekt, bei dem ich ehrenamtlich mitwirken konnte“, erinnert er sich. Dann erzählte ihm ein Freund von ShelterBox.

Das von einem britischen Rotary-Mitglied im Jahr 2000 initiierte Projekt hilft weltweit Opfern von Natur- und anderen Katastrophen mit Ausrüstung und Hilfsgütern außer Nahrungsmitteln, die Obdach und das Nötigste zum Leben bieten. Wie nach dem Tsunami 2004, der mehr als 200.000 Menschenleben in Asien forderte. Oder nach dem verheerenden Erdbeben 2010 in Haiti und dem Taifun Haiyan, der drei Jahre später die Philippinen verwüstete. Zuletzt half ShelterBox den Überlebenden der Hurrikane in der Karibik, vertriebenen Familien in Bangladesch und Syrien sowie vom Krieg verwüsteten Ortschaften im Irak.

Ohne zu wissen, was auf ihn zukommt, beschloss der heute 33-jährige Wes Clanton, sich beim ShelterBox Response Team (SRT) zu bewerben. Die 163 Mitglieder des Notfallteams werden mindestens zweimal im Jahr zu dreiwöchigen Hilfseinsätzen entsendet. Rund 20 Prozent der freiwilligen Helfer sind Rotary-Mitglieder. Wes Clanton wusste sofort, „dass sich das super mit meiner Arbeit und meinen Interessen vereinbaren lässt und etwas ist, was ich viele Jahre und während meines Heimaturlaubs machen könnte“.

Der einjährige Prozess begann im Dezember 2016, als er nach einem Online-Test ein umfangreiches Bewerbungsformular in seinem E-Mail-Postfach vorfand. „Ich dachte, das ist der absolute Wahnsinn“, erinnert er sich. „Die Forderungen auf dem Antrag hauten mich um. Ich bin ja dafür, viel ehrenamtliche Arbeit zu leisten, aber das war mir fast zu viel.“ Gleichzeitig reizte ihn die Herausforderung. Er füllte den Antrag aus und arbeitete in den nächsten Monaten Schritt für Schritt auf die Aufnahme bei ShelterBox hin. „Die Vorbereitungsarbeit ist enorm“, sagt er. „Dokumente einreichen, viel lesen, Videos anschauen. Und das alles neben meinem Job und Studium.“

Biegen, aber kein Brechen
Etwa 350 andere Kandidaten bewarben sich gleichzeitig mit Wes Clanton. Nur 20 von ihnen wurden elf Monate später ins englische Cornwall eingeladen und von einem ernsten Trainer mit den Worten begrüßt: „Das ist euer Abschlusstest.“ Einer der 20 war Wes Clanton. Die Lizard-Halbinsel in Cornwall ist der südlichste Punkt Englands und reicht bis in den Ärmelkanal hinein. „Die Halbinsel ist fantastisch für das ShelterBox-Training geeignet“, meint Colin Jones. Der schlanke Mann mit den tätowierten Armen ist Chefausbilder der Organisation. „Es ist ziemlich trostlos hier, und es regnet viel, was die Stimmung drückt.

Das ist für unsere Zwecke sehr nützlich.“ Im Theorieunterricht lernen die Kandidaten, die es in die Endauswahl geschafft haben, für den Einsatz in der Praxis äußerst wichtige Kompetenzen. In Teams durchqueren sie Cornwall, wo sie mit Katastrophenszenarios fertig werden müssen, die den Echtfall simulieren. „Wir suchen Elemente heraus, die sie psychisch und physisch auf ihren ersten Einsatz vorbereiten“, erklärt Colin Jones, der von drei weiteren Ausbildern unterstützt wird. „Wir versuchen, es ihnen so schwer wie möglich zu machen“, fügt Bruce Heller vom RC Allen Sunrise in Texas hinzu.

In dieser grünen Kiste befindet sich das wichtige Equipment, mit dem die ShelterBox Response Teams im Ernstfall ausrücken

Rotarier Heller ist nach zehn ShelterBox-Einsätzen bereits ein Veteran und einer der neun „Beschatter“, die in Cornwall die Auszubildenden beobachten und betreuen. Diese Aufgabe kommt auch Liz Odell zu. Als Mitglied im englischen RC Nailsworth hat sie bereits 18 Einsätze absolviert. Sie fand die Ausbildung damals körperlich anstrengender, aber vielleicht weniger effektiv: „Es regnete ständig, das Essen war schlecht und wir wurden viel angeschrien. Es war sehr schwer, unter diesen Bedingungen etwas zu lernen. Jetzt ist die Ausbildung zielgerichteter und vielseitiger.“

Ruhe bewahren
Ned Morris lässt sich von unerwarteten Problemen nicht aus der Ruhe bringen. Als Winzer, Weinberater und begeisterter Naturmensch hat er viel von einem Pfadfinder an sich: Neben dem einjährigen ShelterBox-Training nahm er an einem zehntägigen Wildniscamp in Wyoming und an Reanimations- und Erste-Hilfe-Kursen des Roten Kreuzes teil. Der 48-jährige Rotarier aus Walla Walla im Bundesstaat Washington fuhr zunächst als ShelterBox-Botschafter durch den Nordwesten der USA, um die Organisation und ihr Wirken bekannt zu machen und Spenden für sie zu sammeln.

Dann nahm er an der dreitägigen ShelterBox Ambassador Field Experience in Texas teil, die den Einsatz des ShelterBox Response Teams simuliert. „Wir mussten einige derselben Hürden wie die SRTs überwinden. Zum Beispiel mit der Ausrüstung durch den Zoll kommen. Oder Reporter, die dir das Mikrofon ins Gesicht halten. Das hat uns eine Vorstellung davon gegeben, was bei einem Einsatz auf einen zukommen kann.“ Sein Appetit war geweckt. Ned Morris bewarb sich um die Aufnahme in das ShelterBox-Helferteam und begann denselben Prozess wie Wes Clanton.

Der letzte Schritt vor dem Abschlusstraining in Cornwall war ein viertägiger Feldtest außerhalb Torontos, an dem er, Wes Clanton und 14 weitere Bewerber teilnahmen. „Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet“, sagt Wes Clanton. „ShelterBox gab uns konkrete Anweisungen, welche Campingausrüstung mitzubringen ist, das reichte zur Vorbereitung.“ Wes Clanton war ziemlich zugeknöpft („Ich kann nicht viel zu den einzelnen Details sagen“), während sich Ned Morris etwas mitteilsamer zeigte: „Körperlich war es gar nicht so anstrengend, wie ich dachte“, sagt Ted Morris.

Psychisch allerdings schon: „Man gab uns Szenarios, wo viel mehr Menschen Hilfe brauchten, als Hilfsgüter verfügbar waren. Wir mussten die qualvolle Entscheidung treffen, wer Hilfe erhält und wer nicht. Das war das Schwerste für mich, zu wissen, dass wir nicht jedem helfen können und dass ich einem Team angehören werde, das diese Entscheidungen treffen muss. Das wird nicht leicht sein.“

Von Praxistauglichkeit zur Realität
Die Reserviertheit von Wes Clanton ist Standardvorgehen von ShelterBox. Die Geheimhaltung bestimmter Details der Ausbildung ist für den Erfolg des Programms unverzichtbar. Auf dem Weg in ein Einsatzgebiet wissen die ShelterBox-Helfer nicht, auf welche Überraschungen sie gefasst sein müssen. Für die Auszubildenden sollte das nicht anders sein, lautet die logische Schlussfolgerung von ShelterBox.

Oder wie Wes Clanton sagt: „Du musst in solchen Situationen du sein.“ Ohne zu viel zu verraten, kann ich jedoch Kandidaten, die in diese öde Ecke Cornwalls aufbrechen, den Tipp geben, auf Folgendes gefasst zu sein: wenig Essen und noch weniger Schlaf. Missgeschicke und schlechtes Wetter. Unruhe gefolgt von Grauen. Unterricht und Tests durch Ausbilder und Beschatter. Seid vor allem auf das Unerwartete gefasst, und dann sofort auf noch mehr Unerwartetes. Das macht den Abschlusstest so hart. Es ist eine Taktik von ShelterBox, das echte Leben zu simulieren und eine dramatische, ja sogar gefährliche Situation folgen zu lassen, wie ein brisantes Treffen mit hochrangigen Vertretern der UNO oder einer anderen humanitären Organisation. Egal, was sie gerade durchgemacht haben, müssen die Trainingsteilnehmer in der Lage sein, auf lange Fragen kurz zu antworten und selbst Fragen zu stellen.

„Du musst konzentriert bleiben und kannst nicht auf Autopilot schalten“, sagt Ned Morris. „Das war sehr anstrengend.“ Selbst banale Aufgaben können eine unerwartete Wendung nehmen. Wenn zum Beispiel der Polizeichef nur dann ein Visum erteilen will, wenn sich die Helfer um Polizisten kümmern, die ihr Haus verloren haben, was eine Verletzung der ShelterBox-Bestimmungen darstellt. 

Effektives Training
Auch medizinische Kompetenzen werden erworben. „Unsere Mediziner bilden praxisnah für Situationen aus, die wir hoffentlich nie erleben werden“, sagt Colin Jones. „Wenn sie aber doch in eine solche Situation geraten, wissen wir, dass sie richtig damit umgehen werden.“ Ein Szenario in einer Hilfsunterkunft führte zu einem unerwarteten Gefühlsausbruch einer Australierin, deren Lernkurve zeigte, wie effektiv das Training sein kann.

Die Begeisterung für gute Taten wurde Katelyn Winkworth in die Wiege gelegt. Die 27-jährige Präsidentin des Rotaract Clubs Brisbane Rivercity setzt sich für die bessere medizinische Versorgung der eingeborenen Bevölkerung ein: „Ich besuche Dörfer, um die größten Gesundheitsprobleme festzustellen, und konzipiere Programme dafür. Eine mitunter schwierige, aber sehr dankbare Aufgabe.“ ShelterBox schien ideal für die junge Frau, gäbe es da nicht ein Problem: ihr mangelndes Selbstbewusstsein. „In jeder Phase (der Überprüfung) dachte ich, das schaffe ich nie. Wieder und wieder glaubte ich, das sei das Ende. Am ersten Tag (des Feldtests) dachte ich, dass ich einfach meine Sachen packen und nach Hause fahren sollte, nie würde man sich für mich entscheiden.“

Diese Handgriffe müssen sitzen: Katelyn Winkworth hilft, ein ShelterBox-Zelt aufzubauen

Colin Jones versteht, wie überwältigend dieses und das Abschlusstraining in Cornwall sein kann: „Wir lassen die Kandidaten ein Szenario nach dem anderen üben, gefolgt von Nachbesprechungen und Feedback, bis es in Fleisch und Blut übergeht. Wer gut mit dem Feedback umgehen kann und es annimmt, schneidet am besten ab.“ So wie im Fall von Katelyn Winkworth. „Ich halte mich normalerweise mit meiner Meinung zurück und übernehme nicht gern die Führung“, sagt sie. „Die ersten anderthalb Tage wollte ich mehr beitragen, hielt mich aber zurück. Am zweiten Abend gab man mir eine Führungsrolle. In diesem Moment begriff ich, dass andere auf mich hören werden und ich Entscheidungen treffen kann, die auf Zustimmung stoßen, und meine Selbstzweifel schwanden. Ohne diese Chance wäre mir das nie klar geworden. Ich war von mir selbst beeindruckt und fand es toll, dass ich das kann.“

Es folgte die Einladung nach Cornwall. Nach der Hälfte der Ausbildung wurde Katelyn Winkworth zur Teamleiterin gemacht. „Am Anfang fiel es mir schwer“, erinnert sie sich. „Da ist die Angst, die Aufregung und jede Menge Nervenflattern, wenn man für ein Team verantwortlich ist und Entscheidungen trifft. Wir waren extrem müde und ich konnte mich nur mit Mühe konzentrieren und mich klar ausdrücken.“ Mit der Zeit zeigte das Gelernte jedoch seine Wirkung und das Team arbeitete besser zusammen.

„Als Gruppe schnell zusammenzufinden, muss gelernt sein“, sagt Katelyn Winkworth. „Wir fanden bald heraus, wo unsere Schwächen und Stärken lagen.“ In einer Universität, die als Notunterkunft für 500 Menschen hergerichtet worden war, kamen bei ihr Emotionen hoch. Der Platz war völlig überfüllt, die Toiletten reichten nicht aus und es gab zu wenig zu essen. „Das hat so richtig deutlich gemacht, wie die Praxis aussehen wird, Menschen, denen alles genommen wurde: ihre Familien, geliebte Menschen, ihr Zuhause. Mir kamen die Tränen, obwohl es doch nur ein Szenario war.“

Bestanden 
Ihre Reaktion offenbarte zugleich ihre Hauptmotivation: „Die Idee, dass jeder Mensch Würde hat, ist für mich wichtig. Genauso wichtig, wie ihnen zu helfen, diese Würde selbst am schlimmsten Tag ihres Lebens nicht zu verlieren. Menschen nach einer Katastrophe die Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben, das bewundere ich und daran möchte ich teilhaben.“

Nach zehn langen Tagen ist das Training zu Ende. Die ShelterBox-Kandidaten sind erschöpft und nach tagelangen kargen Rationen auch sehr hungrig. Das Martyrium hat Spuren hinterlassen, und nicht nur bei den Teilnehmern. Beim Überreichen der ShelterBox-Response-Team-Ausweise – und ja, alle haben den Abschlusstest bestanden – scheint Colin Jones mit den Tränen zu kämpfen. Von der harten Fassade ist nichts mehr zu sehen.