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Upgrades aus der Luft

Forum -  Upgrades aus der Luft
Von der Pferdekutsche im Stall zum Stromer: Die Autobranche erfindet sich neu – mit Folgen für die Zulieferindustrie © Thomas Trutschel/Photothek/Imago Images

Die Zukunft des Automobils ist batterieelektrisch und digital. Das bietet Chancen, stellt Autokonzerne aber auch vor enorme Herausforderungen.

Willi Diez01.09.2021

Die Börsen lügen nicht. Sie übertreiben zwar manchmal, stürmen Entwicklungen voraus oder hinken gelegentlich auch mal hinterher. Aber letztlich sind die Aktienkurse die einzig harte Währung, in der Erwartungen und Vertrauen in der Welt der Wirtschaft gehandelt werden.

Seit Jahresbeginn haben Automobilwerte deutlich an Zuspruch gewonnen. Das liegt nicht allein an der guten Absatz- und Ergebnisentwicklung in der Branche. Zunehmend sehen Analysten und Investoren in der Transformation, die die Automobilwelt gegenwärtig erlebt, nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance. Hatte der frühere Daimler-Chef Dieter Zetsche die Börsianer noch im Jahr 2018 mit der Bemerkung geschockt, dass Elektroautos zwar gut für die Umwelt, aber schlecht für die Bilanz seien, so sehen das sein Nachfolger und auch andere Automobilmanager inzwischen anders: Auch mit Elektroautos seien mit attraktiven Produkten und einer technischen Vereinheitlichung bei den Batteriesystemen und den Fahrzeugarchitekturen durchaus auch in Zukunft auskömmliche Margen zu erzielen. Und überdies, so die weitverbreitete Meinung, verspreche das verstärkte Angebot an softwarebasierten Diensten zusätzliche Umsätze und Gewinnpotenziale. Keine Frage: Trotz des aktuellen Chip-Mangels strotzen die Automobilhersteller nur so vor Selbstvertrauen und die Kapitalmärkte sind für Automobilaktien – um im Börsenjargon zu bleiben – „bullish“. Zu Recht?

Im Grunde hat die Automobilindustrie zwei Transformationsprozesse gleichzeitig zu bewältigen: die Transformation vom Verbrenner zum Elektroauto und die Transformation vom Hardware- zum Softwarespezialisten. Das Elektroauto – so darf man heute konstatieren – ist durch. Die Politik setzt die Wegmarken und offensichtlich ist die einspurige, nur für Elektroautos geöffnete Durchfahrtsstraße mittlerweile auch politisch mehrheitsfähig. Wie Fukushima einst der Katalysator für das Ende der Atomkraft war, so sind die Überschwemmungen und Waldbrände der letzten Wochen der Katalysator für das baldige Ende des Verbrenners. Die Europäische Kommission lässt keinen Zweifel, was sie technologisch will, und in Deutschland braucht sich keine Partei Hoffnungen auf gute Wahlergebnisse zu machen, wenn sie nicht bereit ist, den Kauf eines Elektroautos massiv finanziell zu fördern. In Österreich hat Bundeskanzler Sebastian Kurz zwar kürzlich „Technologieoffenheit“ in Sachen Antriebstechnik angemahnt. Aber wie soll die ausehen, wenn in Europa vorrangig in die Elektrifizierung investiert wird und die Politik nach wie vor nur Elektroautos als „emissionsfrei“ bewertet? All diejenigen, die noch an Wasserstoffautos oder an die massenhafte Verbreitung von synthetischen Kraftstoffen glauben, haben den Kampf verloren.

Der Markt verlangt nach E-Autos

Auch die Automobilhersteller (jedenfalls die deutschen) haben klar signalisiert, wohin sie gehen wollen: Hieß es zum Beispiel bei Daimler kürzlich noch „Electric first“, so heißt es nun „Electric only“. Für VW-Chef Herbert Diess ist ohnehin schon seit Jahren klar, dass die Zukunft elektrisch sein wird, und bei BMW, wo man immer mal wieder von einem Brennstoffzellenauto für die Langstrecke gesprochen hat, hat die Elektro-Fraktion ganz eindeutig die Deutungshoheit über die künftige Antriebstechnologie übernommen. Elon Musk, der die Brennstoffzelle („fuel cell“) einmal als „fool cell“, zu Deutsch: „Idiotenzelle“, bezeichnet hat, hat auf der ganzen Linie gesiegt.

Auch die Autofahrer, auf die es ja bei der Durchsetzung einer neuen Technologie letztlich ankommt, finden nach und nach mehr Gefallen an den leisen und flotten Flitzern. Allein im ersten Halbjahr 2021 hat sich der Absatz von batterieelektrischen Autos in Deutschland und Österreich mehr als verdreifacht. Mittlerweile liegt der Anteil von Elektroautos in Europa – wenn man die Plug-in-Hybride miteinbezieht – bei knapp 16 Prozent und ist damit nicht mehr allzu weit vom Diesel-Anteil, der auf 20 Prozent zurückgegangen ist, entfernt. Diskussionen über die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Antriebstechnologien dürfen gerne noch in akademischen Kreisen geführt werden, was auch der Fall ist, aber in der Praxis ist die Richtung klar: das Auto der Zukunft ist das batterieelektrische Auto.

Die zweite große Transformation – die Digitalisierung des Autos – wird aus unterschiedlichen Quellen gespeist. Sie hängt natürlich mit der ersten großen Transformation zusammen: In Elektroautos ist ein intelligentes Energie- und Reichweitenmanagement von herausragender Bedeutung. Das geht nicht ohne ausgefeilte digitale Steuerungssysteme. Ferner steigert die Überlastung der Infrastruktur den Wunsch nach einem hilfreichen Routenmanagement, um wenigstens die schlimmsten Staus umfahren zu können. Und schließlich ist es das Komfort- und Unterhaltungsbedürfnis, das Autofahrer und Autofahrerinnen gleichermaßen erfasst hat. „Always connected“ ist längst zum Mantra des digitalen Zeitalters geworden. Fast scheint es so, dass man nicht mehr Auto fährt, um von A nach B zu kommen, sondern um zu telefonieren, Musik zu hören und auf dem Beifahrersitz oder auf der Rückbank im Internet zu surfen und die neuesten Netflix-Serien anzuschauen.

Den Automobilherstellern kommt der Trend, das Auto mit immer neuen Assistenz- und Konnektivitätssystemen auszustatten, durchaus entgegen. Denn was beim Elektroauto an Wertschöpfung im Antriebsstrang verloren geht, kann so an anderer Stelle kompensiert werden. „Over-the-Air“-Dienste gelten als ein Massenmarkt der Zukunft. Nach Schätzungen soll dieser Markt von heute unter zehn Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2030 auf über 100 Milliarden US-Dollar steigen. Dabei geht es nicht allein um das Update von Software im Fahrzeug wie etwa bei den Karten für das Navigationssystem, sondern zunehmend um die Freischaltung und das Aufspielen von zusätzlichen Funktionen im Auto, wie etwa die Nutzung von LED-Matrixscheinwerfern, das zusätzliche Angebot eines Parkassistenten oder auch die Veränderung des Motorsounds. Mercedes-Chef Ola Källenius hat das kürzlich sehr schön als einen Prozess vom „Update“ zum „Upgrade“ bezeichnet. Dass solche „Upgrades“ nicht kostenlos sind und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein werden, liegt in der Natur der Sache. Schon in wenigen Jahren wollen alle Automobilhersteller einen erheblichen Teil ihres Umsatzes und ihrer Gewinne mit Over-the-Air-Diensten machen.

Doch der Kampf um die lukrativen Umsätze mit softwarebasierten Angeboten dürfte hart werden. Denn nicht nur die Automobilhersteller, sondern auch und vor allem die großen IT-Konzerne wollen sich ein möglichst großes Stück von diesem Kuchen abschneiden. Bereits heute offerieren Apple und andere Tech-Giganten zahlreiche Dienste, die mehr oder weniger direkt auf Autofahrer abzielen. So bietet Apple einen „CarKey“ an, der es ermöglicht, das Auto mit dem Smartphone zu öffnen. Einige Automobilhersteller, wie etwa VW oder Mercedes, versuchen dem durch die Entwicklung eigener, sogenannter proprietärer Betriebssysteme entgegenzuwirken. Ob sie damit die IT-Konzerne auf Distanz zu ihren Kunden halten können, ist angesichts von deren Kompetenz und deren finanzieller Power allerdings fraglich. Es ist daher zu erwarten, dass es ganz ohne Kooperationen mit branchenfremden Akteuren nicht gehen wird. Für die Automobilhersteller ist das ein neuartiger und schwieriger Spagat. Die Zusammenarbeit mit den mächtigen und finanzstarken Konzernen, die zugleich auch Wettbewerber sind, könnte sich als ein Bumerang erweisen, wenn es den IT-Spezialisten aufgrund ihrer millionenfachen Verbreitung und Nutzung gelingen sollte, die besseren und billigeren Devices und Dienste anzubieten.

Die Personalstruktur ändert sich

Bereits heute hinterlässt die Transformation von der Hardware zur Software Spuren in der Branche. Während in der eigentlichen Automobilproduktion und dort vor allem in der Herstellung von Verbrennungsmotoren Arbeitsplätze abgebaut werden, entstehen riesige Entwicklungsbereiche für softwarebasierte Dienste rund um das Auto. So ist Daimler auf der Suche nach 1000 Software-Ingenieuren, von denen aber viele nicht unbedingt bei einem Automobilhersteller, sondern lieber bei einem IT-Unternehmen arbeiten möchten. Um Anreize zu schaffen, müssen sich daher die Unternehmen auf die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse dieser neuen Gruppe von Arbeitnehmern einstellen, die anders arbeiten und bezahlt werden wollen als der traditionelle Automobilwerker. Letztlich prallen damit bei den Autoherstellern nicht nur unterschiedliche Qualifikationsprofile aufeinander, sondern es werden sich auch unterschiedliche Kulturen entwickeln, die gemanagt werden müssen. Die Herausforderungen in der künftigen Führung und in der Personalpolitik der Automobilkonzerne sind enorm.

Dass die Transformation von der Hardware zur Software auch die Zulieferindustrie mit voller Wucht trifft, ist naheliegend. Während traditionelle Kfz-Zulieferer in vielen Bereichen mit Rückgängen rechnen müssen, ergeben sich andererseits auch Chancen. Mittelständische IT-Unternehmen sollten ihren Blick auf die Automobilhersteller richten und sich dort positionieren. Für alle Zulieferer wird in Zukunft gelten, dass ohne digitale Kompetenz in der Branche keine Geschäfte mehr zu machen sein werden. Das gilt nicht nur für das Auto, sondern auch die Produktion, wo heute ganz selbstverständlich erwartet wird, dass ein Lieferant digital in die Produktion des Herstellers eingebunden werden kann.

Letztlich geht es bei der Transformation der Autoindustrie aber nicht nur um unternehmensindividuelle Weichenstellungen, sondern um weitreichende Standortfragen – und damit auch um Chips. Die Frage, ob Europa eine eigene Produktion von Batteriezellen braucht, ist mittlerweile durch die entsprechenden Aktivitäten der Automobilkonzerne beantwortet worden. Aber braucht Europa auch eine eigene leistungsfähige und ausreichend dimensionierte Chip-Produktion, um den künftigen Bedarf in der Automobilindustrie, aber auch in anderen großen Branchen wie dem Maschinenbau oder der elektrotechnischen Industrie, zu befriedigen? Oder ergibt es auch weiterhin Sinn, sich auf langfristige Liefervereinbarungen mit überseeischen Chip-Produzenten zu verlassen? Vor allem aber: Wer soll diese Chip-Produktion aufbauen? Das Know-how dafür gibt es in Europa kaum. Also wird man sich doch wieder an die asiatischen und nordamerikanischen Platzhirsche wenden müssen.

Kein Stein bleibt auf dem anderen

Einmal mehr rückt dabei auch China ins Blickfeld, denn dort wird man allein aus Gründen der nationalen Autonomie dafür sorgen, dass all jene Rohstoffe vorhanden sind, die die heimischen Autoproduzenten benötigen. Könnte das nicht auch für die deutschen Hersteller ein Grund sein, ihre Produktionskapazitäten in China weiter auszubauen? Und wäre dann möglicherweise der Zeitpunkt, von dem an in China gefertigte „deutsche“ Autos nach Europa kommen, gar nicht mehr so fern? Das Joint Venture zwischen Daimler und dem chinesischen Automobilhersteller Geely, die gemeinsam eine neue Generation des Smart in China entwickeln und produzieren, ist nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt ein spannendes Projekt.

Die gegenwärtige Transformation hat durchaus das Potenzial, einen Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ einzuleiten, wie das vor vielen Jahrzehnten der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter bezeichnet hat. Da ist es auch keine Übertreibung, wenn man vorhersagt, dass in der Autobranche in den nächsten Jahren kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Unlängst hat VW-Chef Herbert Diess erklärt, dass die Mobilitätswelt bis zum Jahr 2030 „den größten Wandel seit dem Übergang vom Pferd zum Auto“ erleben wird. Bleibt zu hoffen, dass der nicht aufgrund der kleinen Plättchen, ohne die kein Computer funktioniert, ins Stocken gerät.