Neufundierung einer erfolgreichen Idee

Die Entwicklung des Völkerrechts folgt einer universellen Logik der Gegenseitigkeit, spiegelt aber immer auch globale Machtverhältnisse. Seit Jahrzehnten lebte der Westen und eigentlich seit 1990 die ganze Welt unter den Bedingungen des atlantischen Völkerrechts. Ideelle Signatarmächte dieser Ordnung waren Großbritannien und die USA, die 1941 die Atlantik-Charta beschlossen und auf deren Betreiben die Vereinten Nationen 1945 gegründet wurden. Kern des atlantischen Völkerrechts ist der Verzicht auf Gewaltanwendung und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, der gleichberechtigte Zugang zum Welthandel und zu Rohstoffen, Achtung der Menschenrechte und die Stärkung internationaler Organisationen. Wer sich das in Erinnerung ruft, reibt sich heute umso heftiger die Augen. Im Blick auf den „Brexit“ und den neuen Präsidenten der USA scheint es, als ob die Eltern des atlantischen Völkerrechts sich von ihrem Kind abwenden, während Nationen, die von der Feindstaatenklausel der UN erfasst sind, die treuesten Anhänger dieser offenen, integrativen Weltordnung sind.

Stagnation der Entwicklung
Die Exponenten des mitunter postmodern wirkenden International law waren eigentlich längst dabei, den nächsten Entwicklungsschritt zu befördern. Es geht um die Globalverfassung eines sich abzeichnenden Weltstaats; um funktionelle Zwänge für die Staaten, die nach steter Anpassung rufen; um universelle Menschenrechte, Cultural Diversity, rechtliche und ethische Gebote, die die Staaten immer mehr in die  Pflicht nehmen und die alte Souveränität verblassen lassen. Die europäische Integration war ein Musterbeispiel des Kommenden: Verzicht auf Protektionismus im ersten und Verzicht auf Staatsgrenze und Währung im zweiten Schritt. Es gelang so offenbar die Zivilisierung und Einpassung der alten Staaten in eine neue internationale Herrschaftsordnung. Doch seit der 2008 ausgebrochenen Weltfinanzkrise, seit der Euro-Schulden- und Migrationskrise wird auch in Europa die Kluft größer zwischen solchen Ideen einer universellen Entwicklung des Weltrechts und einer geo­politischen Wirklichkeit, die in die ent­gegengesetzte Richtung strebt.

China inter­pretiert den offenen Welthandel doch recht deutlich unter nationalen Nützlichkeitsgesichtspunkten und entwickelt in Asien hegemoniale Ansprüche, die mehr an die Gedanken Carl Schmitts zur „Großraumtheorie mit Interventionsverbot raumfremder Mächte“ erinnern als an das atlantisch entwickelte System gegenseitiger kollektiver Sicherheit unter dem Dach der Vereinten Nationen.

Auch Putin findet, dass die USA eigentlich in Europa fremd sind. Ein starkes vereintes Europa an der Seite weltpolitisch verantwortlich handelnder USA – das scheint nicht sein Leitbild zu sein. Im Nahen Osten zerfallen Staaten und führen Regionalmächte Stellvertreterkriege, verheeren dabei ganze Länder. Haben wir es etwa zu weit getrieben mit der Öffnung der Welt, mit der Ökonomisierung und Domestizierung der Nationen und Kulturen? Schlägt das Pendel jetzt zurück? Dro­hen ein neuer protektionistischer Geist und die militärische Durchsetzung hegemonia­ler Herrschaftsansprüche, drohen der Zer­­fall von Rechtsstaaten und Demokratien?

Düstere Szenarien
Es lässt sich heute recht leicht ein düsteres Bild vom Ende des Westens malen, vom Verfall seiner Rechts- und Sittenordnung. Der wiederholte Bruch der europäischen Verträge, die wenig vertrauenerweckende Politik der EZB, Drohungen der US-Administration, sich über Regeln des Welthandelsrechts hinwegzusetzen, die populistisch von links und rechts angefeuerte Ablehnung aller neuen Handelsabkommen – all das verheißt wahrlich nichts Gutes. Was sollte der angeschlagene Westen tun?

Wer genauer hinschaut, wird die These vom Abschied der USA und der Briten vom atlantischen Völkerrecht relativieren müssen. Die britische Premierministerin May möchte keinen Protektionismus, keine Ab­­wicklung von NATO und UN. Sie ­möchte mehr nationale Handlungsfreiheit, um das Vereinigte Königreich neu global aufstellen zu können. Ihre letzten Reden aus An­lass des „Brexits“ zeigen die Idee einer Korrektur der linearen Globalisierung, die nach ihrer Ansicht die Bindung der Staaten übertrieben hat und damit die Handlungsfähigkeit und Stabilität der Demokratien gefährdet. Auch die bislang infantil geführ­te neue amerikanische Administration wird es nicht auf den großen Rechtsbruch im Blick auf die universelle Friedenpflicht und das Welthandelssystem ankommen lassen, weil sonst die Bühne freigegeben wird für die konkurrierenden regionalen Hegemone, die Amerika zurück auf seinen Kontinent wünschen. Am Ende stünde ein schwaches, isoliertes, ein provozierbares Ameri­ka – also so ziemlich das Gegenteil von dem, was Trump im Wahlkampf versprach.

Auch in Europa gehen nicht die Lichter aus. Die EU hat Zukunft, wenn sie nicht mehr mit einem Überschuss an Sendungsbewusstsein ihrer Funktionseliten Proble­me zudeckt, sondern löst. Wir brauchen weniger postmodernes Völkerrecht und weniger weltstaatliche Träume, sondern die Neufundierung des erfolgreichen atlantischen Völkerrechts. Dazu gehört die richtige Balance zwischen Selbstbestimmung und Bindung. Moderne souveräne Staaten sind zum Frieden und zum fairen offenen Handel bereit, sie gehen vernünftige, begrenzbare Rechtspflichten ein, wollen eine internationale Bindung, aber nicht um den Preis ihrer staatlichen Handlungsfähigkeit. Nicht hilfreich sind Konzepte, wie die jüngst vom europäischen Generalanwalt Mengozzi für das Asyl vorgeschlagene Transnationalisierung der Grundrechte über die Grenzen der EU hinaus. Sie würde den Staaten noch mehr Handlungsspielraum und Fähigkeit zur demokratischen Selbstbestimmung nehmen und damit Nahrung geben für die populistische Revolte gegen die Institutio­nen des weltoffenen Verfassungsstaates und gegen das europäische Projekt.

Rückkehr zum Recht
Europa wird außenpolitisch und sicherheitspolitisch stärker zusammenstehen müssen, um Hoffnungen auf Spaltung zu enttäuschen. Hier muss mehr investiert werden. Auch der Schulterschluss mit den USA sollte unverrückbare Unionsräson sein. Das gilt auch und gerade, wenn in Washington jemand nicht allzu filigran durch den Porzellanladen der Diplomatie tappt. Die  Mitgliedstaaten müssen gleichzeitig Kontrollverlusten im Innern und in den Außenbeziehungen viel wirksamer be­­gegnen und die jeweilige nationale Ver­antwortung für das Ganze auch im fis­kalischen und wirtschaftlichen Handeln deutlicher machen. Haftungsgemeinschaften und Umverteilungsmaschinerien, die manche auf der Agenda noch für dieses Jahr haben, werden den Kontinent nicht vorwärts bringen. Damit Europa in kritischen Sachbereichen wieder zum Recht zurückfindet, sollte das Recht an die demokratischen und marktwirtschaftlichen Funktionsbedingungen besser angepasst werden. Manche Richtlinie und Verordnung ist längst entbehrlich geworden, es wäre einiges zu verschlanken.

Vor allem aber brauchen wir Vertrauen und Investitionen in die atlantische Idee der freien Gesellschaft. Das politisch tief gespaltene Amerika hat starke Institutionen. Trump mag als Persönlichkeit gefähr­lich sein, aber er ist das Ergebnis einer Wahl und keiner Machtergreifung. Die Welt ist aus den Fugen geraten und wir werden in den nächsten Monaten und Jahren auch in Europa wichtige Weichenstellungen erleben. Das neu tarierte atlantische Völkerrecht ist ein guter Kompass.