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Peters Lebensart

Trinken mit Maß

Peters Lebensart - Trinken mit Maß
© Jessine Hein/Illustratoren

Genuss, Akzeptanz und Umgang mit alkoholischen Getränken verändern sich, was sowohl international als auch regional zu beobachten ist.

Peter Peter01.07.2022

Lockdown in Großbritannien, Pubs zu, Besuchssperre in Krankenhäusern. In der Downing Street scherte man sich nicht darum und feierte nach Dienstschluss exzessive Alkoholgelage. „Partygate“ bescherte dem Premierminister einen knapp überlebten Misstrauensantrag und kostete hochrangige Mitarbeiter ihren Job. Sie hatten zur Unzeit eine britische Tradition hochgehalten: „after-work drinking“. Jetzt ist das wieder erlaubt, sodass sich statt des biederen Fünf-Uhr-Tees Trinkerknäuel vor den Pubs der Londoner City tummeln – man schluckt gerne im Stehen auf der Straße, schließlich saß man den ganzen Tag im Office. Dass das weibliche Geschlecht wacker mithält, beweisen die beliebten und gefürchteten „hen parties“ mit „binge drinking“ bis zum kollektiven Kontrollverlust. Allerdings: Wegen zunehmend verbreiteter Furcht vor K.-o.-Tropfen greift so manche Frau statt zum Cocktail im Club lieber zu eigenhändig geöffneten Flaschen bunter Mixgetränke aus dem Supermarkt. Aber wildes Trinken auf der Straße oder in der S-Bahn gibt es natürlich auch bei uns. Auf der Admiralbrücke chillen Berliner und Eventtouristen bei Bierflaschen und Alcopop-Dosen – Vermüllung durch Scherben und Kronkorken nicht ausgeschlossen. Und Cornern an der Straßenecke mit Astra-Buddel und Sponti-Musik ist als jugendlich antibürgerliches Lebensgefühl nicht unwitzig, solange man nicht permanent die Anwohner des Schanzenviertels nervt und das Aufräumen anderen überlässt.

Auffallend ist in nördlicheren Regionen der scharfe, fast bigotte Gegensatz zwischen Enthaltsamkeit tagsüber und der Bereitschaft, abends über die Stränge zu schlagen. Beim Businesslunch in Hannover oder Bremen outet man sich schnell als undiszipliniert, wenn man zum Mineralwasser noch Wein oder Bier ordert. Im Süden der Republik oder gar in Österreich herrscht da eine andere Mentalität. Ein weißer Spritzer gehört zum Mittagessen einfach dazu und in Bayern ist man sowieso überzeugt, dass Bier flüssige Nahrung und nicht etwa eine Verlockung des Saufteufels sei. Klar, im Kastaniengarten oder beim Heurigen wird teilweise schon vor dem Mittagsläuten gezecht, aber die soziale Akzeptanz, die Einbettung in den gastronomischen Alltag ist trotz aller Oktoberfest-Maßen eine maßvollere, harmonischere. Schaut man noch weiter nach Italien, so scheinen sich die Einheimischen zu fragen, wieso man überhaupt Alkoholika außerhalb der Mahlzeiten trinken soll? Und wenn, dann allenfalls ein Glas „vino da meditazione“ oder ein niedrigprozentiger Amaro. Woher rühren diese Unterschiede im Trinkverhalten? Banal, aber sicher hängt es auch am Klima, dass Trinkfestigkeit eher eine Wikingertugend als ein mediterranes Männerideal ist. Es könnte aber auch an unbewusst nachwirkenden religiösen Prägungen liegen. Demonstrativer Alkoholverzicht, der in der Forderung nach Prohibition gipfelt, hat eher evangelische Wurzeln. Wein wird nicht als Gottesgabe gepriesen, sondern als potenzielle Schwächung der Arbeitskraft und des protestantischen Leistungsethos kritisch beäugt. Katholischerseits sah man das immer etwas hedonistischer und betonte die gesellige Wirkung heiterer Konvivialität statt fitnessfixierter Selbstoptimierung.

Glaubt man den Statistiken, so hat Deutschland trotz antialkoholischer Lippenbekenntnisse, trotz fallenden Konsums und immer kleinerer Gläser in der Gastronomie ein Alkoholproblem. Gut sieben Millionen Bürgerinnen und Bürger sind latent gefährdet. Was ihre Gesundheit bedroht, ist eher unkontrollierter Konsum zu Hause als das entspannte Glas Riesling zum Mittagessen. 

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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